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Ab Freitag 3.1.2025 wieder gewohnte Öffnungszeiten
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Das neue Buch aus unserer hauseigenen Edition 5plus ist erschienen!
Das Strandbad von Michael Krüger.
Das Buch erscheint in einer limitierten, handnummerierten Exklusiv-Auflage.
Das Buch ist im LIBRIUM erhältlich, oder bestellbar über buch@librium.ch
Hier finden Sie Informationen zu allen bisher erschienenen Büchern der Edition 5plus.
Simon Libsig: »Der Velodieb, der unters Auto kam«
Ein junger Mann in Not wird durch einen Velodiebstahl in ein Verbrechen hineingezogen, dessen Ausmass er nicht erahnen kann. Bald sucht ein skrupelloser Auftragsmörder die beschauliche Kleinstadt Baden heim.
Eine schwungvolle, irrwitzige Kriminalgeschichte um einen verliebten Velodieb, einen kaputten Politiker und einen arthritischen Killer.
Wir freuen uns über das grossartig geschriebene, wunderschön gestaltete, erste Buch in unserem eigenen Verlag! »LIBRIUM, Der Verlag«
CHF 30.- Jetzt im Librium holen, oder bestellen über buch@librium.ch
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Für unser Sortiment erhalten wir täglich Komplimente und möchten hier das Geheimnis lüften, warum es sich im Librium etwas anders anfühlt als in manchen anderen Buchhandlungen: Wir wählen unsere Bücher konsequent nach persönlichem Geschmack aus, das heisst, wir führen nicht nur bekannte Autor:innen deren Bücher in qualitätsbewussten Verlagen erscheinen, unsere Sympathie gilt auch kleinen Verlagen, auch unbekannten Schriftsteller:innen, ganz speziell schön gestalteten Büchern. Dabei geht es nicht nur um das Wahre, Schöne, Gute, bei uns finden Sie auch einen spannenden Krimi oder gute Unterhaltungslektüre, weil wir nicht glauben, dass wertvolle Bücher langweilig sein müssen. Bei uns lässt sich also viel entdecken, auch stehen bei uns Trouvaillen, die im schnell drehenden Markt längst vergessen sind. Eine unserer wichtigsten Aufgaben besteht darin, für Sie die Spreu vom Weizen zu trennen und Ihnen mit unserer kompetenten Auswahl Vorschläge zu machen, was für Sie lesenswert sein könnte. Nehmen Sie sich Zeit für ausgedehntes Schmökern und Blättern in unseren Büchern. Oder Sie kommen direkt zu uns und sagen uns, was Sie suchen: Wir beraten Sie kompetent und sehr gerne! Und wenn Sie nur erzählen wollen, wie Ihnen das soeben gelesene Buch gefallen hat, wir sind gespannt auf Ihre Meinung.
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Team
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Laurin Jäggi
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Debora Stoffel
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Doris Widmer
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Lea Müller
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Halina Hug
Veranstaltungen
Buchtipps
Sina Scherzant, Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Katha nennt sich selbst «Lebenshandwerkerin».
Sie sieht ihre Aufgabe darin, möglichst angepasst und ohne jemals anzuecken die Probleme ihrer Mitmenschen zu lösen – allen voran die ihrer frisch getrennten Eltern und ihrer Schwester.
Bis sie an ihrem neuen Wohnort auf die Mutter einer Schulfreundin trifft, bei der sie sich zum ersten Mal gesehen und wertgeschätzt fühlt und ihre eigenen Bedürfnisse endlich Raum bekommen.
Als dann das Schicksal unvermittelt zuschlägt, versinkt Katha nebst ihrem ständigen Gefühlschaos des Erwachsenwerdens in überwältigender Trauer.
Sina Scherzants Romandebüt ist ein feministischer, einfühlsamer Roman über kindliche Prägung, Angepasstheit und den Druck der Gesellschaft auf eine heranwachsende Frau. Er kommt dabei mit feiner Selbstironie und Sarkasmus daher – genau das macht die schweren Themen des Buches aushaltbar. Ein wunderbarer Coming of Age-Roman einer Autorin, von der wir hoffentlich noch viel mehr lesen werden.
Debora Stoffel
Helgard Haug, All right. Good night.
„Allright. Good night.“ ist ein Theaterstück und ein Roman.
Der erste der bekannten Regisseurin Helgard Haug (Rimini-Protokoll)
Er hat mich umgehauen. Ihre hier geschilderte Erfahrung ist eine, die immer mehr Menschen machen. Ein Elternteil im fortgeschrittenen Alter wird als zunehmend verwirrt wahrgenommen. Die einst so vertraute Person verändert sich, wird fremd, vielleicht unberechenbar. Viele Fragen stellen sich: Wie gelingt Kommunikation so noch und was ist zu tun, um die Würde des Kranken zu bewahren? Anders das Unglück, das den Angehörigen der Passagiere von Flug MH370 im Jahre 2014 widerfahren ist. So etwas zu erleben ist unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher, dass die Umstände der Tragödie so lange und auch nicht abschliessend ermittelt werden können. Viele Fragen auch hier. Kein Einzelschicksal, global diskutiert, trotzdem unfassbar.
„Ich stelle mir vor wie mein Vater das Flugzeug betritt.
Mitten in der Nacht. Er fliegt nicht gerne.
Der Vater, schreib ich jetzt immer.
Die Maschine, schreib ich jetzt immer.“
Der Vater war nicht in der MH370 von Kuala Lumpur nach Peking.
Doch Parallelen gibt es. Beides beginnt 2014. Es sind Abschiede, die sich brutal und unbegreiflich aufdrängen. Helgard Haug hat akribisch recherchiert und etliche Gespräche mit den Angehörigen des aviatischen Unglücks geführt. Spannend und respektvoll erzählt sie die beiden tragischen Prozesse parallel nach. Das Verschwinden des Vaters in die Demenz. Und das Verschwinden der 239 Passagiere im Indischen Ozean. Die Idee diese beiden Ereignisse miteinander zu verbinden, mag absurd erscheinen, doch das Ergebnis ist schlicht genial. Eine beeindruckend ehrliche Trauerarbeit und ein Panorama universeller Verlusterfahrung.
Lea Müller
Die einsamen Begräbnisse, Poetische Nachrufe auf vergessene Leben
Herausgegeben von Melanie Katz
Was passiert, wenn ein Mensch einsam verstirbt und sich keine Hinterbliebenen finden lassen?
«Das Einsame Begräbnis» ist ein Projekt, bei dem sich Dichter:innen in einen sozialen Dienst stellen: Sie schreiben ein persönliches Gedicht für einen einsam verstorbenen Menschen und lesen dieses bei der Beerdigung vor, ein letztes Wort, ein letztes Geleit.
Das 2001 von Bart F. M. Droog in den Niederlanden gegründete Projekt besteht seit mehreren Jahren auch in Zürich, initiiert von der Autorin Melanie Katz. Nun ist im Limmat Verlag ein Buch erschienen, das die «Poetischen Nachrufe auf vergessene Leben» sammelt, die seit 2017 auf dem Zürcher Friedhof Nordheim verlesen werden. Nebst den Gedichten von Martin Bieri, Martina Clavadetscher, Alexander Estis, Michael Fehr, Sascha Garzetti, Rolf Herrmann, Melanie Katz, Gerhard Meister, Klaus Merz, Nathalie Schmid und Ulrike Ulrich enthält das Buch auch Essays sowie die Rechercheberichte der Autor:innen zu den Verstorbenen. In den Berichten wird deutlich, wie sich die Lyriker:innen den ihnen unbekannten Menschen annähern und zuwenden, so dass ein Gedicht entstehen kann.
«Das Einsame Begräbnis» ist ein Projekt, das sowohl gesellschaftlich als auch literarisch von grosser Relevanz ist – und es ist von berührender Tiefe. Umso schöner, dass die Texte nun auch in Buchform greifbar sind, eine Lektüre, die zum Nachdenken anregt, bewegt und beeindruckt.
Halina Hug
Paolo Giordano, Tasmanien
Der Journalist und Schriftsteller Paolo ist Anfang vierzig. Seine Frau entscheidet sich ohne Rücksprache, die Versuche mit künstlicher Befruchtung aufzugeben. Der Lebenstraum eines gemeinsamen Kindes, einer Familie platzt. Ausgelöst durch diese Ehekrise taumelt Paolo durchs Leben, immer auf der Suche nach dem noch schlimmeren Unglück.
Er reist an die Klimakonferenz nach Paris um darüber für die Zeitung zu berichten und stellt fest wie unfassbar langweilig die Klimakrise ist. Eine Katastrophe, die sich viel zu langsam entwickelt und die Aushandlung eines internationalen Abkommens sind einschläfernd. Dies im krassen Gegensatz zur tatsächlichen Bedrohung die vom Klimawandel ausgeht.
So treibt der Protagonist weiter ziellos umher, beschäftigt sich mit den Grausamkeiten des Terrorismus und will ein Buch schreiben über die Atombombe, saugt alle schrecklichen Krisen der Welt in sich auf, nur um sich nicht mit seinen eigenen Krisen befassen zu müssen, um nicht nach Hause gehen zu müssen.
Paolo Giordanos Roman Tasmanien ist ein sehr zeitgemässes Buch, das die Ängste und die Rastlosigkeit unserer Gegenwart spiegelt. Ein Psychogramm unserer westlichen, überinformierten Gesellschaft, die an der allgegenwärtigen Weltuntergangsstimmung leidet, an der Erwartung der Katastrophe, an einer «prätraumatischen Zeit».
Laurin Jäggi
Eva Ibbotson, Was der Morgen bringt
Was für eine Überraschung, unter den Neuerscheinungen dieses Jahres den Roman «Was der Morgen bringt» von Eva Ibbotson zu entdecken! Das Buch war bereits in den 1990er Jahren unter dem Titel «Die Morgengabe» erschienen und ich erinnerte mich sofort an vergnügliche Lesestunden als Teenager zurück.
Das Buch war damals einer meiner ersten Ausflüge in die Welt der Erwachsenenliteratur und ich war gespannt, ob mich die etwas schwülstige Liebesgeschichte beim erneuten Lesen noch immer so begeistern würde.
Die jüdische, grossbürgerliche Familie Berger aus Wien flieht nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach England. Tochter Ruth bleibt durch ein Missverständnis zunächst zurück und schafft es nur mit Hilfe einer Scheinehe ebenfalls rechtzeitig nach London. Dort angekommen, beginnen die Schwierigkeiten aber erst so richtig...25 Jahre später finde ich nun abermals einen glänzend komponierten Roman vor. Ein wenig aus der Zeit gefallen, aber durch die Neuübersetzung doch deutlich frischer, vermochte es dieses Buch lustigerweise erneut, mich an denselben Stellen anzurühren. Eine klare Leseempfehlung!
Doris Widmer
Katrine Engberg, Glutspur
Liv Jensen, ehemalige Polizistin und nun Privatdetektivin, bekommt den Auftrag einen alten Mordfall an einem Journalisten aufzuklären. Schnell wird ihr klar, dass viel mehr dahintersteckt und sie fängt an, in der düsteren Vergangenheit anderer Menschen zu graben. «Glutspur» von Katrine Engberg ist ein fesselnder Kriminalroman, der sich durch eine tiefgründige und komplexe Handlung auszeichnet. Engberg gelingt es, tiefgründige Charaktere zu erschaffen, deren persönliche Geschichten geschickt mit dem eigentlichen Geschehen verwoben sind. Dies gibt dem Buch eine emotionale Tiefe und macht die Figuren unvergesslich. Die detaillierten Beschreibungen der Handlungen und der Landschaft bringen dem Leser die Geschichte noch näher. Das Buch ist nicht nur ein Kriminalroman, sondern auch eine Studie über menschliche Beziehungen und über die Schatten, die die Vergangenheit wirft. Die Entwicklungen sind unberechenbar und halten den Leser bis zum überraschenden Ende in Atem. Ein Muss für Fans von nordischen Krimis!
Darjan Böller
Klaus Merz, Noch Licht im Haus
Der Aargauer Autor Klaus Merz ist ein Meister der Verdichtung. Auch in seinem aktuellen Werk «Noch Licht im Haus» geht Merz den Wörtern nach und macht auf reduzierteste Weise grosse Räume auf.
Der schmale, ausdrucksstarke Band umfasst die breite Reichweite seines poetischen Werks: Lyrik, poetische Miniaturen, kurze Geschichten – das vermeintlich Einfache, Alltägliche, Beiläufige sowie der Dialog mit Musik und bildender Kunst.
Die sanfte Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, das Erinnern, das Vergessen ziehen sich als Motive durch die Texte. Was bleibt, sind die Wörter. Verdichtet natürlich, spielerisch auf den Punkt gebracht.
Halina Hug
Dreifelderwirtschaft
Am Anfang das Wort.
Dann sein behutsames
Ausbuchstabieren. Lesend.
Schreibend. Schweigend.
Zwischen Sehnsucht und
Erinnerung das zarte Grau
des brachen Tages.
Katerina Sad, Eine tierisch gute Idee
Die Enten auf dem verlassenen, abgelegenen Bauernhof haben ein Problem – es finden sich keine neuen Besitzer, und der Winter naht. Wie sollen sie ohne Vorräte überleben?
Zeit, schreiben zu lernen und mit einem Plakat neue Besitzer zu finden!
Doch das mit den Buchstaben ist gar nicht so einfach…
Mit wenig Text und ausdrucksstarken Bildern schafft es Katerina Sad, eine poetische Geschichte zu erzählen. In den farbenfrohen Zeichnungen lässt sich vieles entdecken und zwischen den Zeilen lesen.
Eine Geschichte für ganz klein bis ganz groß, voller Witz, Hoffnung und Heidelbeertinte.
Halina Hug
Clara Dupont-Monot, Brüderchen
In eine Familie in den Cevennen wird ein körperlich und geistig schwer behindertes, »unangepasstes« Kind hineingeboren. Obschon das Brüderchen stumm und blind ist, beeinflusst es das Leben seiner älteren Geschwister und seines nachgeborenen Bruders wesentlich. Seine Geschichte wird aus den drei unterschiedlichen Perspektiven der Geschwister erzählt, die alle sehr verschieden auf die Geburt ihres Brüderchens reagieren.
Ein zurückhaltend und berührend erzählter Roman, der ohne Kitsch und Bewertung auskommt und der es schafft, nicht nur die Wut und die Trauer der Geschwister zu vermitteln, sondern auch die große Liebe zwischen den Familienmitgliedern. Trotz des eher schweren Themas ist das Buch ein feinfühliges, schönes Leseerlebnis, das sich durchaus auch zum Schenken eignet.
Debby Stoffel
Julie Otsuka, Solange wir schwimmen
Solange Alice schwimmt, ist alles in Ordnung. Bahn für Bahn pflügt sie durch das Wasser des unterirdischen Schwimmbads, inmitten einer verschworenen Gemeinschaft, wo alle oberirdischen Neigungen, Verschrobenheiten und Unzulänglichkeiten bedeutungslos sind. Auch Alices Demenz. Als eines Tages ein Riss am Boden von Bahn 4 erscheint, lösen sich alle Selbstverständlichkeiten auf. Die Schwimmenden sind irritiert und kehren an die Oberfläche zurück, schon lange bevor das Bad nach längerem Hin und Her geschlossen wird. Alice findet sich in einem Pflegeheim wieder, ihre Krankheit schreitet fort. Hier in der Belavista Residenz versucht ihre Tochter, die Schriftstellerin, Alice zu fassen, sich ihr anzunähern, sie zu verstehen und die kostbaren Erinnerungen festzuhalten, solange es noch irgendwie möglich ist. Diese Erinnerungen sind auch für sie von unschätzbarem Wert, denn ihre Mutter war eine der ersten Japanerinnen, die ihr Glück in den USA suchten, aber ihr Leben lang mit ihrer Heimat verbunden blieben.
Ein ruhiges, gleichmäßiges, aber dennoch rhythmisches Buch, kräftigen Schwimmzügen nicht unähnlich, das Beziehungen und Lebensläufe auslotet und nachzeichnet.
Doris Widmer
Sarah Elena Müller, Bild ohne Mädchen
In einem Schweizer Bergdorf lebt die Familie der Hauptfigur. Es ist ein linksalternatives Milieu; die Mutter ist Künstlerin, der Vater Biologe und Naturschützer. Das Mädchen ist eine Außenseiterin, hat keine Freunde in der Schule und bereitet den Eltern Sorgen, weil sie immer noch Bettnässerin ist und kaum spricht. Das Mädchen verbringt viel Zeit bei den Nachbarn, weil sie dort fernsehen darf. Nach und nach zeichnet sich ab, dass die Probleme des Mädchens mit Kindesmissbrauch zu tun haben. Nur die Erwachsenen im Umfeld wollen oder können das nicht sehen.
Dieses schwierige und bedrückende Thema setzt Sarah Elena Müller in ihrem Roman Bild ohne Mädchen einfühlsam und wirkungsvoll um. Mit einer eigenständigen, dichten, literarischen Sprache und starken Bildern schafft es die Autorin, eine Missbrauchsgeschichte zu erzählen, ohne moralische Kurzschlüsse zu ziehen oder anklagend zu sein. Meistens wird aus der Perspektive des Mädchens und später der jungen Frau erzählt, mit behutsamen Wechseln, wodurch psychologisch fein gezeichnete Figuren entstehen. Obwohl die Opfer- und Täterrollen eindeutig sind, gelingt der Autorin eine differenzierte Betrachtung der involvierten Personen mit einer Erzählweise, die Ambivalenzen und Leerstellen zulässt.
Ein unglaublich sensibler und wuchtiger Debütroman.
Laurin Jäggi
Dizz Tate: Wir, wir, wir
Dieses Buch liest sich wie ein Hitzefl irren, wie ein Sommernachtstraum, eine Fata Morgana. Immer wenn man das Gefühl hat, den Durchblick zu haben, wird alles wieder schummrig.
Im Zentrum der Geschichte steht eine Gruppe Mädchen von ca. 13 Jahren in einem Wohnblock im hochsommerlichen Florida. Sie sind einander Freundinnen, Vertraute, Feindinnen, Familie – ein Wir. Sie bewegen sich im gleichen Takt, bis zu dem Moment, als ein junges Mädchen aus ihrer Gegend verschwindet und nur sie wissen, was geschehen ist. Abwechselnd aus der Wir-Perspektive der Teenager und der Sicht der erwachsenen Protagonistinnen tastet sich die Leserin an die Wahrheit heran.
Der Text brilliert in seiner schonungslosen Beobachtung der Brutalität dieser Mädchengruppe. Ein Fiebertraum von Buch, welches einen so unsicher zurücklässt, dass man alles noch einmal lesen will.
Lea Kalt
Ein Bestiarium des Anthropozäns
Kennen Sie »Plastiglomerat«? Ich bisher nicht. Und ja, das schreibt man wirklich so!
Der von Wissenschaftlern neu gewählte Begriff bezeichnet eine Mischung von geschmolzenem Plastik, Basalt und Holz, die durch die Einwirkung von Feuer eine neue Gesteinsform bildet. Entdeckt in Hawaii, wird dieses neuartige Material als Endprodukt unserer weltweiten Müll-Zirkulation verstanden. Diese neuartige Verbindung ist eines von sechzig gegenwärtigen Biestern, die uns in der Reihe NATURKUNDEN von Nicolas Nova und dem Forschungskollektiv Disnovation.org vorgestellt werden. Allen gemein ist, dass sie durch menschliche Einwirkung entstanden sind.
Andere Beispiele in diesem Bestiarium des Anthropozäns sind genetisch veränderte Pflanzen, die fistulierte Kuh, vom Militär genutzte Rattenbomben, der Kunstrasen oder unter der Kategorie genormte Natur auch schlicht die Hecke.
Das schön gestaltete Buch wirkt dabei selbst wie neues Material und lädt zu einer ungeschönten Betrachtung unseres Zeitalters ein. Auch die Essays zum Schluss bieten dafür denkwürdige Anregung. Eines trägt den sprechenden Titel: »Über das Leben mit dem Nicht-Lebendigen«.
Lea Müller
Christian Haller, Sich lichtende Nebel
Zu seinem 80. Geburtstag im Februar 2023 veröffentlichte Christian Haller die Novelle »Sich lichtende Nebel«. Der vielfach ausgezeichnete Aargauer Schriftsteller, in Brugg geboren, wohnt in Laufenburg. Dass Christian Haller nicht nur literarisch, sondern zeitlebens auch naturwissenschaftlich wirkte macht sich in seinem neuesten Buch bemerkbar.
Als der junge Physiker Werner Heisenberg in Kopenhagen beim Nobelpreisträger Niels Bohr gastiert, beobachtet er eines Nachts, von langen Diskussionen mit seinem Mentor erschöpft, einen Mann. Dieser spaziert durch die Nacht und taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Diese zufällige Beobachtung löst in Heisenberg eine neue Idee aus, welche ihn zur Erfindung der Quantenmechanik inspiriert. Der nächtliche Spaziergänger ist die zweite Hauptfigur in diesem Text. Der emeritierte Geschichtsprofessor und Wittwer trauert um seine verstorbene Frau und ist einsam. Er beginnt plötzlich die Welt anders wahrzunehmen, „bewegte Zustände von Energie, von unglaublicher, leuchtender Schönheit“.
Geschickt werden die Geschichten der beiden Hauptfiguren montiert, nicht um die Quantenphysik zu erklären, sondern um die Unschärfe und Ungewissheit unseres Wissens und unserer Existenz zu zeigen. Diese Novelle besticht durch ihre philosophische Tiefe und die Eleganz ihrer Sprache.
Laurin Jäggi
Demian Lienhard, Mr. Goebbels Jazz Band
Während des Zweiten Weltkriegs gründen die Nazis in Berlin eine Jazzband zu Propagandazwecken. Die Radiosendungen werden als Waffe nach England gesendet und sind dort sehr beliebt. Der zwielichtige englische Faschist und Moderator der Sendung „Lord Haw Haw“, gilt als Hitlers Stimme in England. Nun soll ein Schweizer Schriftsteller diesen Erfolg im Auftrag der Nazis dokumentieren. In Berlin lernt er die Musiker kennen, viele von ihnen sind Juden oder homosexuell und spielen buchstäblich um ihr Überleben um nicht deportiert, oder an die Front geschickt zu werden.
Mit «Mr. Goebbels Jazzband» veröffentlicht der Badener Autor Demian Lienhard seinen zweiten Roman. Es ist eine verrückte, wahre Geschichte, für die der Autor die historischen Gegebenheiten ausführlich recherchiert hat. Neben dieser Geschichte verhandelt der Roman aber auch das Verhältnis von Kunst und Propaganda. Was ist der Unterschied zwischen Fiktion und Propagandalügen? Wer erzählt und warum?
Der Text ist erzählerisch und sprachlich raffiniert gebaut und führt die Leserschaft mit viel Tempo und witzigem, ironischem Erzählton ins Berlin der 40er-Jahre. Demian Lienhard gelingt ein sehr unterhaltsamer, lesenswerter Roman über diese schwierige Zeit, mit dem richtigen Mass an Ernsthaftigkeit und Humor.
Laurin Jäggi
Dominik Oppliger, giftland
Der Schlagzeuger Sämi ist mit seiner Band auf Tournee in den USA. Doch für Sämi will sich keine Freude einstellen und das Rockstarleben entpuppt sich als enttäuschend und kräftezehrend.
«wärend anderi dihei ide schwiiz / uf proberuumsofas umehokked / und alles defür würded gää / sonen trip chöne zmache / schmökt ufem sämi sinere zunge / jede tag fodere tour winen schluk abgschtandnix coci.».
Das Tourleben spielt sich in den tagelangen monotonen Fahrten auf Highways ab. Die vorwärtsgerichtete Logik des Tourplanes erweist sich als gleichförmiger Stillstand, als deprimierende Täuschung.
Mit dem Roman «giftland» legt Dominic Oppliger sein zweites Buch in Zürichdeutsch vor. Der Text ist nah an der mündlichen Sprache und wirkt trotz der ungewohnten Schreibweise sehr natürlich. Nicht nur thematisch geht es um Musik, auch die Sprache ist rhythmisch, durchgetaktet und liest sich wie ein Songtext. Es ist trotz aller Schwere und Monotonie auch ein grosses Vergnügen diesem Klagelied zu lauschen. Dominic Oppliger, der im Aargau aufgewachsen ist und in Zürich lebt, erweist sich als feiner, humorvoller Beobachter. Er schreibt atmosphärisch dicht über die Desillusion eines amerikanischen Traumes, dem schliesslich durch eine schräge Idee doch noch ein Silberstreifen am Horizont abgewonnen werden kann.
Laurin Jäggi
Nathalie Schmid, Lass es gut sein
Die Aargauer Schriftstellerin Nathalie Schmid, legt nach drei Lyrikbänden mit «Lass es gut sein» ihren Debütroman vor. Die Protagonistin Larissa hadert mit ihrer Rolle als Mutter, zweifelt, in der Mitte des Lebens, ob sie zufrieden sein kann damit, wer sie geworden ist. Erinnerte Szenen aus der Kindheit und Gespräche mit Ihrer Familie ergeben ein psychologisch fein gestricktes Porträt, das sich sachte zu einem ganzen Leben entfaltet.
Wie sehr wird man geprägt durch die Herkunft, die Eltern, die Rollen die einem von der Familie und von der Gesellschaft zugeschrieben werden? Und wie würden wahre Freiheit und Selbstbestimmung aussehen? Gebannt folgt man der Hauptfigur Larissa, wie sie versucht das Beziehungsgewebe, das sie umgibt zu verstehen und zu ordnen. Mutig und zugleich verletzlich beginnt sie ihr Leben neu auszurichten.
Ein eindrücklicher Roman über Familienbande, über Lebensentwürfe und gesellschaftliche Zwänge, der ein fragiles Psychogramm zeichnet.
Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Sie lebt in Freienwil.
Laurin Jäggi
Monique Roffey, Die Meerjungfrau von Black Conch
Ein riesiger, silbergrau schimmernder Fischschwanz, lange, pechschwarze Dreadlocks, der Körper voller geheimnisvoller Tätowierungen. Die Meerjungfrau, welche 1976 von amerikanischen Fischern vor der Küste Trinidads aus dem Wasser gezogen wird, entspricht nicht unbedingt der gängigen Vorstellung eines solchen Wesens. David, einem damals noch junger Fischer aus Black Conch war die Meerjungfrau bereits zuvor auf einer seiner Fahrten aufgefallen. Er hat sie darauf immer wieder aufgesucht und eine erste zarte Bindung zu ihr aufgebaut. Als er sie dann am Haken baumeln sieht, schneidet er sie kurzerhand los und versteckt sie bei sich in der Badewanne. Bei ihm verwandelt sich das Fischwesen nach und nach zurück in die Frau, die sie vor hunderten von Jahren gewesen war und es beginnt für die beiden eine kurze Zeit der Glückseligkeit.
Ein schillerndes, oftmals auch raues, modernes Märchen, welches alte Mythen geschickt mit aktuellen Themen verwebt und dessen fremdartiger Charme den Leser, die Leserin sofort in seinen Bann zieht. Doris Widmer
Mohamed Mbougar Sarr, Die geheimste Erinnerung der Menschen
Ein junger senegalesischer Autor sucht nach einem verschollenen Kultbuch und seinem legendären Verfasser. Der mysteriöse Schriftsteller T.C. Elimane wurde in den 1930er Jahren in Paris als literarische Sensation gefeiert. Ein afrikanischer Autor, aus der Kolonie, der als der „schwarze Rimbaud“ galt. Doch ebenso schnell wurde er rassistisch angefeindet und nach einem Skandal verliert sich seine Spur. Auf diese Suche nimmt uns der Protagonist Diégane mit und mit ihm verstrickt sich die Geschichte immer mehr in ein Labyrinth aus Geschichten auf verschiedenen Zeitebenen und auf drei Kontinenten.
Mohamed Mbougar Sarr, geboren 1990 in Dakar erhielt für den Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ den Prix Goncourt 2021, den wichtigsten Preis für französischsprachige Literatur.
Der vielschichtige und meisterhaft komponierte Text, ist ein grosses Lesevergnügen und ein Lobgesang auf die Kraft der Literatur. Er verhandelt neben der krimihaften Rekonstruktion eines rätselhaften Schriftstellerlebens aber auch gesellschaftliche und historische Fragen.
Wie wird in Frankreich über Literatur aus Afrika gesprochen? Und wie mit dem komplizierten kolonialen Erbe umgegangen? Laurin Jäggi
Gabrielle Zevin; Morgen, morgen und wieder morgen
Nordamerika in den frühen 2000ern. Sadie und Samson lernen sich als Kinder in einem Krankenhaus kennen und freunden sich schnell über ihr gemeinsames Interesse an Videospielen an. Dennoch verlieren sie sich aus den Augen und treffen erst Jahre später zufällig wieder aufeinander. Sie entscheiden sich dazu, gemeinsam ein Videospiel zu entwickeln und holen dazu Sams Mitbewohner an Bord. Das Spiel wird ein Riesenhit, zieht aber auch schwerwiegende Folgen nach sich, die ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen.
Der Roman bildet eine spannende literarische Verbindung zwischen der realen und der virtuellen Welt. Gabrielle Zevin zeichnet die Figuren so realistisch und menschlich, dass man sich auch nach den fünfhundertsechzig Seiten noch wünscht, die Protagonist:innen weiter begleiten zu dürfen.
Das Buch ist nicht nur für Fans und Kenner:innen von Games. Es ist eine berührende Geschichte über alle Arten zwischenmenschlicher Beziehungen, das Erzählen von Geschichten und das Erwachsenwerden. Debby Stoffel
Anna Maria Stadler, Maremma
Esther und ihre Jugendfreunde suchen sich für die Sommerferien «[…] meistens Orte, wo schon irgendjemand von uns als Kind mit seinen Eltern gewesen ist. Als müssten wir Engramme abfahren, die sich uns in die Kleinhirnrinde gefräst haben.“
Dieses Mal fahren sie gemeinsam nach Italien in die Maremma. Die örtlichen Gegebenheiten sind jedoch eigentlich nicht entscheidend. Alles ist im Grunde nichts als Kulisse für die Gespräche und Gedanken, das Ritual des Zusammenseins und die Erinnerungen an frühere Ferien und Erlebnisse. Tatsächlich besticht die Erzählung auch nicht durch die Handlung oder die Persönlichkeit der Figuren, sondern vielmehr durch die assoziativen Gedanken und genauen Beobachtungen.
Die sinnlichen Beschreibungen Esthers entführen einen ganz unverhofft in die erholsame Geschwindigkeit mit der die Tage durch die Gruppe hindurchziehen.
Dem steten Wechsel zwischen genauer Beobachtung und Kontemplation zu folgen, fühlt sich an wie eine Buchlänge Ferien. Wer sich nach vita contemplativa sehnt und es diesen Sommer vielleicht nicht in den Süden schafft, der oder die lese dieses Debüt. Lea Müller
Frances Cha, Hätte ich dein Gesicht
Das Debüt von Frances Cha gibt Einblick in das Leben von vier jungen südkoreanischen Frauen, die in demselben Wohnkomplex der südkoreanischen Hauptstadt Seoul leben.
Ara, Kyuri, Miho und Wonna – charakterlich verschieden, haben gemeinsam, nicht zur Oberschicht zu gehören. Trotz belastenden Ereignissen in der Vergangenheit versuchen sie als Room-Salon-Girl, Friseurin und Künstlerin Tag für Tag in der schonungslosen Realität zu bestehen.
Interessant ist der stetige Perspektivenwechsel, denn mit jedem Kapitel wechselt die Ich-Erzählerin. Die Lesenden erfahren so entweder mehr von einer der Figuren oder erhalten eine andere Sichtweise auf dieselben Ereignisse.
Der gesamte Roman ist ein sorgsam gezeichnetes Bild, welches die manchmal bizarre, gewaltige Ungleichheit und strikte Hierarchie in der südkoreanischen Gesellschaft aufzeichnet. Im Kern verborgen aber, liegt die Freundschaft und der Zusammenhalt der einzelnen Frauen, der sich langsam offenbart. Obwohl ihre Leben alles andere als einfach sind – dass sie einander haben, gibt Grund zur Hoffnung, dass sie auch die Zukunft gemeinsam durchstehen werden. Nina Brutsche
Arno Geiger, Das glückliche Geheimnis
Als 2005 der Deutsche Buchpreis zum ersten Mal vergeben wurde, war Arno Geiger mit dem Roman «Es geht uns gut» der erste Preisträger und bekam viel Aufmerksamkeit. Seine zwei zuvor erschienenen Romane hatte ich nicht wahrgenommen, aber nach der Lektüre des preisgekrönten Buches habe ich seine weiteren Romane jeweils nach Erscheinen gelesen. Ich denke, das ist die beste Voraussetzung um das neu vorliegende Buch mit Spannung zu lesen: Der Autor schildert hier seinen ganz eigenen Werdegang zum Schriftsteller. Der Text ist in Form einer Beichte geschrieben, erzählt Geiger uns doch tatsächlich ein lange gehütetes Geheimnis. Natürlich will ich dieses hier nicht verraten, die Überraschung soll den Lesenden gehören. «Das Verschweigen von etwas kann Freude bereiten. Aber auch das Erzählen kann Freude bereiten. Nachdem ich so lange die Freude des Verschweigens ausgekostet habe, nehme ich mir jetzt die Freiheit des Erzählens» so Geiger in seinem neuen Buch. Ich habe es in einem Zug gelesen, mich gewundert, nachgedacht, teilgenommen an seinen Einsichten und am Ende mein liebstes seiner Bücher «Alles über Sally» nochmals gelesen. Susann Jäggi
Mareike Fallwickl, Die Wut, die bleibt
Helene, Mutter von drei Kindern, stürzt sich eines Abends ohne ein weiteres Wort vom Balkon. Zurück bleiben Sara, ihre beste Freundin aus Kindertagen, und ihre halbwüchsige Tochter Lola. Sara versucht die Lücke, die Helene in ihrer Familie hinterlassen hat, mit Fürsorglichkeit und Aufopferung zu schliessen und nimmt kurzerhand Helenes Platz ein. Das chaotische Familienleben, das trotz dem Tod der Mutter irgendwie weitergehen muss, fordert Sarah bis zum Äussersten und lässt sie beinahe daran zerbrechen. Die Trauer um die Freundin, ihr eigenes, irgendwie unfertiges Leben mit den wechselnden Liebhabern und die Reibereien mit der pubertierenden Lola verlangen Sarah Einiges ab. Lola ihrerseits versucht mit ihren Emotionen fertigzuwerden, indem sie beginnt, Kampfsport zu trainieren. Dort in der neuen, dynamischen Frauengruppe, lernt sie ihre Wut herauszuboxen, die Trauer um die Mutter langsam zuzulassen und das Erlebte zu verarbeiten. Mareike Fallwickl verwebt die beiden Schicksale zu einem bewegenden, kämpferischen Roman darüber, was es heisst, in unserer Gesellschaft Frau zu sein. Doris Widmer
Lukas Maisel, Tanners Erde
Der Zweitling «Tanners Erde» des Schweizer Autors Lukas Maisel trägt die Gattungsbezeichnung Novelle. Und tatsächlich steht eine unerhörte Begebenheit im Zentrum dieses Textes. Ein riesiges kreisrundes Loch erscheint auf einer Weide des Bergbauern Tanner. Zunächst versucht er das Problem zu verdrängen, versucht das Loch abzudecken, aber es hilft nichts. Fassungslos muss Tanner dabei zusehen, wie ihm der Boden unter den Füssen entzogen wird. Das einfache, beschauliche Leben gerät aus den Fugen und weder die Polizei noch die Gemeindepräsidentin noch der Pfarrer können ihm helfen. Auch die Journalisten verschwinden so schnell wieder, wie sie gekommen sind, nachdem die Sensation von der nächsten Meldung abgelöst wird. Selbst die Geologen von der Uni sind ratlos. Tanner gerät in Not, weil er sein Land, das seine Lebensgrundlage darstellt, nicht mehr nutzen kann und muss seine geliebten Kühe verkaufen.
Lukas Maisel erzählt diese Geschichte in einer lakonischen und reduzierten Sprache. In diesem Buch geht es um die Löcher, die Lücken, das nicht Gesagte. Das lässt viel Raum für weitere Ebenen, die in diesem Text vielschichtig mitschwingen. Laurin Jäggi
Harry Mulisch, Das Attentat
Anton Steenwijk ist zwölf Jahre alt, als ein Attentat am Ende des Zweiten Weltkrieges sein Leben in den Niederlanden auf brachiale Art und Weise formt. In fünf Episoden von 1945 bis 1981 wird erzählt, wie nicht nur seine, sondern auch die Lebensgeschichten anderer, untrennbar mit diesem Verbrechen verwoben sind.
Die Verflechtungen dieser vermeintlich singulären Schicksale zeigen auf, wie vermessen im Grunde unser stetiges Fragen nach Schuld ist, aber auch wie wichtig eben dieses Fragen für ein betroffenes Individuum und die kollektive Erinnerung einer Gesellschaft immer sein wird. Der erfolgreiche Nachkriegsroman von 1982 schafft es, die grundlegenden Fragen unseres Zusammenlebens, die sich in der Brutalität und Unbegreiflichkeit des Krieges so schonungslos zeigen, unterhaltsam und spannend zu verhandeln. Lea Müller
J.Schotveld/M.Praagman (Illustration), Die Abenteuer der tapferen Ritterin
Wenn der Bäcker sich auf einem Baum versteckt, weil er sich nicht traut dem Fahrradmechaniker seine Liebe zu gestehen, wenn ein getürmter Löwe zurück in den Zoo geleitet werden muss, oder wenn in der Schule Mobbing bekämpft werden soll, dann ist es gut, ist die tapferste Ritterin des Landes in der Stadt!
In elf kurzen, von Milja Praagman («Zusammen» und «Bei dir») wunderbar illustrierten Abenteuern begleiten wir die Ritterin dabei, wie sie voller Einfallsreichtum und Durchsetzungsvermögen stets helfend zur Stelle ist. Auf ihrem Rennrad jagt sie Taschendieb:innen, rettet einen Riesen und eskortiert wichtige Diplomatinnen zu politischen Treffen.
Dabei lebt sie uns vor, dass wir alle auch ganz ohne Rüstung und Schwert stark sein können. Das Schwert ist sowieso nur für den Notfall – denn wie jede gute Ritterin weiss, lassen sich die allermeisten Probleme durch Reden lösen. Das Buch ist das erste auf Deutsch übersetzte Kinderbuch von Janneke Schotveld, die in den Niederlanden bereits mehrere Preise für ihre Jugendbücher erhalten hat.
Die Geschichten sind gut zum Vorlesen geeignet, zum Selberlesen werden sie ab acht Jahren empfohlen. Debora Stoffel
Jane Austen, Überredung
Passend zum Thema unseres Magazins habe ich den letzten Roman von Jane Austen «Überredung» (Persuasion) wieder gelesen. Geschrieben hat Jane Austen den Roman Mitte 1815 bis Mitte 1816, sein Erscheinen 1818 jedoch nicht mehr erlebt. Jane Austen starb im Juli 1817 im Alter von 42 Jahren. Sie hat sechs bis heute erfolgreiche Romane geschrieben. Der markante Unterschied in ihrem letzten Roman ist, dass die Hauptfigur Anne Elliot Ende 20 ist - damals eine ältere Frau - während ihre früheren Protagonistinnen junge Frauen am Beginn des Erwachsenenlebens waren. Anne Elliot wurde hart getroffen vom frühen Tod der Mutter, der sie von all ihren Geschwistern am Ähnlichsten war: Nachdenklich, beobachtend, mit viel Humor und Lakonie. Anfang 20 verlobt sie sich mit Kapitän Wentworth, löst die Verlobung auf Druck ihres Vaters und ihrer Ersatzmutter Lady Russel aber kurz danach auf.
Acht Jahre später trifft sie Wentworth wieder und entscheidet sich diesmal autonom für diese Liebe. Natürlich nicht geradlinig, das ergäbe kaum 348 Seiten. Austen führt die adlige Gesellschaft gekonnt vor, voller Witz und Wendungen und ich war wieder bis zur letzten Seite voller Vergnügen dabei. Mehr als zweihundert Jahre sind vergangen, aber die Menschen, die Jane Austen so gekonnt spiegelt, sind noch dieselben. Susann Jäggi
Marianna Kurtto, Tristania
Mitten im Atlantik liegt die Insel Tristan de Cunha, einer der abgelegensten Orte der Welt. Die vulkanische Insel und ihre Bewohner:innen stehen im Zentrum des starken Debütromans der finnischen Autorin Marianna Kurtto. Der Roman spielt 1961 und thematisiert den im damaligen Oktober stattgefundenen Vulkanausbruch, der die Einheimischen zur Flucht zwang. Kurtto verarbeitet diese historischen Geschehnisse mit viel Gespür und Poetik zu einem zarten literarischen Ereignis.
Die reduzierte Sprache, verwoben mit der Eigenheit des Insellebens, baut ein eigenes Universum auf. Der Traum von einem anderen Leben, das Verbundensein mit der Natur und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit werden in diesem stillen Roman durch verschiedene Perspektiven und einem eigenen Rhythmus zu einer Geschichte mit beeindruckenden Figuren.
Da ist eine Lyrikerin am Werk, man merkt es, liest es, spürt es. Und kann nur hoffen, dass noch mehr von dieser tollen Autorin ins Deutsche übersetzt wird! Halina Hug
Hinschauen statt durchfahren
Das Limmattal, zwischen Zürich und der Mündung des Flusses in die Aare bei Turgi, ist ein enorm vielfältiger Raum. Hier zeigt sich das Wachstum der Schweizer Wirtschaftswunderjahre besonders deutlich. Autobahn, Shoppingcenter, Industrie und Hochhaussiedlungen sind Zeugen dieser Zeit. Diese Vielfalt zeigt sich aber auch auf vielen weiteren Ebenen. Die Autor:innen des neuen Buches «Das Limmattal – Hinschauen statt durchfahren» beschreiben diese Aspekte wunderbar anschaulich. Neben der historischen Dimension wird das Limmattal auch als Natur- und Kulturraum, als Wirtschafts-, Verkehrs- und Siedlungsraum beleuchtet. Begleitend zu den anregend zu lesenden Texten illustrieren viele historische und aktuelle Fotografien dieses schön gestaltete Buch. Sehr empfehlenswert, auch für Nicht-Limmattaler!
Laurin Jäggi
Thomas Gröbly
Variationen über Sterben, Nachhaltigkeit und friedfertiges Leben
In seinem neuen Buch «Einen Augenblick staunen» geht es dem Badener Autor Thomas Gröbly um die grossen Fragen des menschlichen Daseins. Ausgehend von seiner Erkrankung an der Nervenkrankheit ALS befasst sich der Text mit dem Sterben, es geht aber ebenso sehr um das Leben, für welches der zweijährige Enkel des Autors steht.
Zeitlebens hat sich Thomas Gröbly, als gelernter Bauer, reformierter Theologe, und Dozent für Ethik und Nachhaltigkeit mit diesen Themen auseinandergesetzt. Angesichts der bedrohten sozialen, ökologischen sowie ökonomischen Lebensbedingungen für die menschliche Zukunft auf der Erde erarbeitet er Ideen, wie wir diesen Problemen begegnen können. Thomas Gröbly spricht sich aus für einen respektvollen, würdevollen Umgang mit der Natur, der über das Konzept der Nachhaltigkeit hinausgeht. Mit dem Begriff der Friedfertigkeit zeigt er einen Weg wie man die Grenzen des Planeten und auch die Grenzen des einzelnen Menschen achten könnte, um allen Lebewesen ein gutes Leben zu ermöglichen.
Dieses Buch analysiert nicht nur ausgezeichnet woran unser Umgang mit der Umwelt krankt, es zeigt auch mögliche Lösungswege auf und ist durch seine ausserordentlich menschliche und persönliche Haltung sehr berührend.
Laurin Jäggi
Martin Kordic, Jahre mit Martha
Jimmy ist 15, heisst eigentlich Željko und hat bereits verstanden, dass er nur durch perfektes Beherrschen der deutschen Sprache eine Chance hat, irgendwann nicht mehr als Ausländer gesehen zu werden. Deshalb klaut er alte Zeitungen aus Müllcontainern und lernt die ihm unbekannten Begriffe der Bildungssprache auswendig. Als er die einige Jahre ältere Martha Gruber kennenlernt (seine Mutter putzt bei ihr), erhält er nicht nur Zugang zu ihrer Bibliothek, sondern auch zu einer ihm neuen Welt. Zwischen der Professorin Martha und ihm entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die wir über mehrere Jahrzehnte begleiten werden. Der Autor und Lektor Martin Kordić beschreibt liebevoll und zart die Beziehung zwischen Jimmy und Martha, ohne dabei kitschig zu werden oder das Machtgefälle zwischen den beiden auszublenden. Der Roman erzählt von Chancenungleichheiten, Privilegien, Benachteiligungen, Heimatbesuchen im Kriegsgebiet, von offenen und geschlossenen Türen, die so häufig von Herkunft und Name bestimmt werden. Es ist die wunderschöne, feine Geschichte eines jungen Mannes, der mitten im Aufeinandertreffen der Kulturen erwachsen werden und seinen Weg finden muss.
Debora Stoffel
Wandern im Jurapark Aargau
Mitten im Aargau, zwischen Aare und Rhein, zwischen Brugg, Aarau, Laufenburg und Möhlin liegt ein Regionaler Naturpark. Kein abgehobenes Paradies, kein stilles Niemandsland, sondern eine Landschaft mit Weite, mit vielfältigen Dörfern und Menschen, die hier zu Hause sind und ihr Auskommen finden. 14 Wandervorschläge führen durch diesen Park. Sie reichen von zweistündigen Spaziergängen bis zu tagesfüllenden Unternehmungen. Hinzu kommen drei Tagesausflüge mit Kindern und drei Tipps, den Jurapark und seine weitere Umgebung mit dem Velo zu entdecken. Das Buch überrascht mit abwechslungsreichen Tipps, interessanten Hintergrundgeschichten und lockt in die sanften grünen Hügel des Juras. Das Gute liegt so nah.
Laurin Jäggi
Anne Tyler, Eine gemeinsame Sache
Wozu lesen wir? Woher kommt die stetige Hinwendung zur Literatur?
Die Gründe sind vielfältig, die Antwort kann heissen: Um Orientierung zu finden, einen Anker, Ruhe, Leichtigkeit, Beständigkeit. An letzterer liegt es wohl, dass ich gerne über Jahrzehnte das Werk von bestimmten Schriftsteller:innen lese und so Anteil nehme an deren Entwicklung.
Anne Tyler ist eine von Ihnen. Die 1941 geborene amerikanische Autorin hat viel geschrieben, den ersten Roman, an den ich mich erinnern kann war 1985 »Die Reisen des Mr. Leary«. Dabei kommt Anne Tylers Stil so leichtfüssig daher, dass sie ungerechterweise immer wieder ins harmlose Lager der Familienromane abgeschoben wird. Im neuesten Roman erzählt sie von der Familie Garrett die aus Mercy und Robin und deren drei Kindern besteht. Die älteste Tochter ist schon beinahe erwachsen, als die Familie 1959 zum ersten Mal eine Woche Ferien macht. Die Geschichte dieser Familie reicht bis heute und zeigt eindrücklich, welche Veränderungen in unserer Gesellschaft seither passiert sind. Die Eltern und deren Beziehung haben mich so gerührt, dass ich einige Male den Tränen nahe war. Bitte lesen.
Und wenn Sie dann grad bei Tyler sind und noch etwas verweilen möchten, lesen Sie von ihr: »Der Sinn des Ganzen«, Tylers zweitletzten Roman, der ebenfalls geeignet ist, einige unserer Wünsche ans Lesen zu erfüllen.
Susann Jäggi
Die Poesie der Logik
Es geschieht nicht alle Tage, dass eine Monographie über eine Aargauer Künstlerin bei einem renommierten Kunstverlag erscheint. Diese Ehre wurde der Badener Künstlerin Ruth Maria Obrist zuteil. Der sehr schön gestaltete Bildband «the poetry of logic» zeigt Werke aus ihrem künstlerischen Schaffen der Jahre 2000 bis 2021.
Viele ihrer Werke hat sie zusammen mit Architekt:innen oder im öffentlichen Raum realisiert, darunter zum Beispiel die Skulptur «Schiff» im Friedhof Liebenfels in Baden oder eine Wandinstallation an der Alten Kantonsschule in Aarau.
Laurin Jäggi
Lea Schneider, Scham
In der Reihe edition poeticon des Verlagshauses Berlin erscheinen Essays, in denen Autor:innen – ausgehend von Schlagwörtern – der Wechselwirkung zwischen Lyrik und wichtigen Fragen der Gegenwart nachgehen.
Die Autorin und Übersetzerin Lea Schneider setzt sich mit der Scham auseinander – prägnant, einnehmend und menschlich. Sie identifiziert Scham als körperliches Wissen, als Abbruch der Verbindung zu Anderen. Scham als Stillmacher, Sprachverlust, Verstummen. Schneider führt auf verschiedenen Ebenen durch die Thematik der Scham: theoretisch, künstlerisch, aber auch persönlich. Wir alle schämen uns, Scham ist uns bekannt und präsent. Trotz des Schmerzes oder der Bedrohung, die mit ihr verbunden sind, ist sie aber auch als «Marker für Interesse» zu verstehen: «Scham zu empfinden bedeutet, sich für die Welt oder etwas in ihr zu interessieren; es bedeutet, offen dafür zu sein, von Anderen, Lebewesen und Dingen, berührt zu werden.»
Das Potenzial dieser Umformulierung von Scham findet Lea Schneider in der Lyrik und schafft mit Ihrem Essay ein Plädoyer gegen die Schamvermeidung, ein Plädoyer dafür, eine Sprache zu finden, «die sich für Scham interessieren kann, ohne sie zu skandalisieren.»
Halina Hug
Stine Pilgaard, Meter pro Sekunde
»Ich bin eine Art Orakel« behauptet die Erzählerin von Stine Pilgaards Roman »Meter pro Sekunde« wiederholt. Tatsächlich schreibt sie die Antworten für den Kummerkasten einer lokalen Zeitschrift. Diesen Roman zu lesen, fühlt sich aber so an, wie einer Prophezeiung zu lauschen. Die Erzählstimme besitzt eine einzigartige Tonlage voller Witz, Melancholie und Rätsel. Namen im
Text sind etwas Seltenes. Die Erzählerin spricht von «der Schulleiterin», «mein Freund», oder «mein Sohn». Jedes Wort wirkt bewusst gewählt, nicht selten reflektiert der Text über das Schreiben und die Sprache selbst. Damit erhält alles, was sie erzählt, eine unaufhaltbare Kraft.
Die Handlung der Geschichte ist begrenzt, der Sog des Romans entsteht durch die präzise Menschenbeobachtung und Selbstanalyse der Erzählerin. Wenn sie von ihren gesellschaftlichen Mühen erzählt, werden die beschriebenen Momente prägnant und originell geschildert. So werden diese sozialen Situationen für die Leser:in nachvollziehbar und erhalten universelle Gültigkeit.
»Meter pro Sekunde« ist der erste auf Deutsch übersetzte Roman der Autorin, zwei weitere sind bereits in Planung. Darauf freuen wir uns!
Lea Kalt
Richard Powers, Erstaunen
Ein Vater und sein Sohn gegen den Rest der Welt: Der 9-jährige Robin hat Asperger, ist hyperintelligent, ausgesprochen sensibel und leidet an der Ungerechtigkeit des Lebens. Seine Schule kommt nicht mehr mit ihm klar und auch seine Ärzte möchten Medikamente einsetzen. Robins Vater Theo gelingt es aber, nach und nach zu seinem Sohn durchzudringen, er nimmt ihn von der Schule, geht mit ihm in die Natur und entwickelt eigene Strategien, um Robin zu beruhigen. Als Wissenschaftler hat Theo Kontakte zu Forschenden aus dem Bereich Decoded Neurofeedback und Robin darf an einer neuartigen Versuchsreihe teilnehmen. In diesen Sitzungen werden bestimmte Gehirnregionen stimuliert und Robin kann sich mit dem Hirnscan seiner verstorbenen Mutter verbinden. Die Therapie schlägt an und Robin lernt, mit seiner Diagnose umzugehen und seine aussergewöhnlichen Begabungen zu nutzen. Allerdings ist der Erfolg nur von kurzer Dauer, da die Fördergelder bald versiegen und Robin und sein Vater wieder auf sich allein gestellt sind.
»Erstaunen« ist ein zeitkritischer, aber auch kluger und berührender Roman mit zwei Figuren, die man wohl so schnell nicht vergessen wird. Mit seiner Art, den Leser:innen die komplexe Wissenschaft auf verständliche Art näher zu bringen, weckt Richard Powers darüber hinaus unsere Neugierde für die kleinen und grossen Dinge unserer Welt und regt uns zum Staunen an.
Doris Widmer
Anna Yeliz Schentke, Kangal
Unter dem Pseudonym Kangal1210 kritisiert Dilek im Internet die türkische Regierung. Bis ihr Freundeskreis immer mehr in den Fokus der Staatsüberwachung rückt und Dilek Hals über Kopf in Istanbul in ein Flugzeug steigt und nach Deutschland flieht. In Frankfurt wohnen Tante und Cousine, doch das letzte Treffen ist Jahre her und Dilek ist sich der 63% Deutschlandtürk:innen bewusst, welche aus der Ferne das türkische Staatsoberhaupt unterstützen. Der staatliche Überwachungsapparat reicht bis nach Deutschland und Dilek könnte auch hier jederzeit als Oppositionelle verraten werden. Schnell zeigt sich, dass ihre Verwandten im sicheren, fernen Deutschland eine eigene Sichtweise auf die Politik in der Türkei haben. Während Dilek versucht herauszufinden, ob sie ihren Verwandten trauen kann, zieht sich die Schlinge um ihre Liebsten in Istanbul immer enger und Dilek muss sich entscheiden, von wo aus sie Widerstand leisten will.
In nüchternem Tonfall erzählt die Autorin von zermürbender Furcht und allgegenwärtiger Überwachung, durch die Freundschaften, Familien und ein ganzes Land geteilt werden. Ein kraftvoller Roman, der einen mit dem mulmigen Gefühl zurücklässt, die Namen der Romanfiguren lieber geheim halten zu wollen.
Debby Stoffel
Thomas Duarte, Was der Fall ist
Mitten in der Nacht erscheint ein Mann auf einem Polizeiposten und berichtet dem einzigen diensthabenden Polizisten seine Lebensgeschichte. Das geordnete Leben des namenlosen Ich-Erzählers ist nämlich aus den Fugen geraten. Zunächst hatte er die Putzfrau Mira, die ohne Aufenthaltsbewilligung arbeitet, im tristen Hinterzimmer seines Büros untergebracht. Auch er selbst bewohnte dieses Zimmer ohne die Erlaubnis seines Arbeitgebers. Als ihn dann der Stiftungsrat des Hilfswerkes für welches er arbeitet, verdächtigt, Geld veruntreut zu haben, droht seiner bescheidenen Existenz das Chaos.
In seinem Debütroman »Was der Fall ist«, gelingt dem in Bern lebenden Autor Thomas Duarte ein melancholisch- komisches Kammerspiel. Auf eine wunderbar leichtfüssige Art werden hier grosse philosophische Themen verhandelt, die Absurdität unserer Existenz ebenso wie die Sinnlosigkeit unserer modernen, leistungsorientierten Arbeitswelt.
Dieser von skurrilen Käuzen bevölkerte Roman erzählt in einer lakonischen, doppelbödigen Sprache von den ganz alltäglichen existenziellen Nöten.
Laurin Jäggi
Reichhaltige Aargauer Zeitgeschichte
Der Kanton Aargau geniesst in der restlichen Schweiz nicht gerade einen besonders guten Ruf. Er gilt manchen gar als derart langweilig, dass es ausser Autobahnen und Atomkraftwerken nicht viel Interessantes zu erzählen geben soll.
Dass der Aargau aber eine sehr reichhaltige und interessante Geschichte hat, beweist das neue Buch «Zeitgeschichte Aargau 1950-2000». Fabian Furter und Patrick Zehnder, die das Grossprojekt im Auftrag der Historischen Gesellschaft das Kantons Aargau herausgeben, versammeln neun Autor:innen, die die moderne Geschichte des Aargaus erzählen. Aus den verschiedenen Perspektiven ergibt sich ein neues Geschichtsbild auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Das Buch ist inhaltlich aufgeteilt in die Themen: Raum und Mensch, Staat und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Alltag, sowie Kunst und Kultur.
Die vielen Bilder und Illustrationen, sowie die flüssig lesbaren Texte tragen ebenfalls zum Vergnügen bei in diesem Buch zu lesen und in die Aargauer Geschichte einzutauchen. Man taucht mit überraschend interessanten Erkenntnissen wieder auf.
Laurin Jäggi
Annabel Lammers, Der Hase ohne Nase
Der kleine Hase irrt umher und schämt sich: Er hat keine Nase. Eines Tages findet ihn ein Mädchen, und plötzlich ist die Sache mit der fehlenden Nase ziemlich unwichtig. Eine wunderbare Freundschaft beginnt, in der auch Mantelknöpfe eine Rolle spielen.
Ein zart illustriertes Kinderbuch für Kinder ab drei Jahren.
Doris Widmer
Donatella di Pietrantonio, Borgo Sud
Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Als die wilde Adriana lebensgefährlich auf der Intensivstation liegt, löst dies bei ihrer Schwester eine Erinnerung nach der anderen aus.
Ein italienischer Familienroman über Verbundenheit - voller Wärme, mit literarischer Kraft.
Halina Hug
Kate Milford, Greenglass House
Weihnachten mit Gästen? Milo ist entsetzt. In den Winterferien hat er seine Eltern in dem Gasthaus normalerweise für sich. Nicht nur tauchen sechs Fremde auf, die ein Zimmer mieten, sondern Gegenstände beginnen zu verschwinden...
Ein charmanter, warmherziger, überraschender Krimi für Kinder ab zehn.
Lea Kalt
Chris Whitaker, Von hier bis zum Anfang
Ein berührender Roman über die junge Duchess, die nach dem Tod ihrer depressiven Mutter zu allem bereit ist, um sich und ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.
Als der verurteilte Mörder und Schulfreund ihrer Mutter aus dem Gefängnis entlassen wird, geraten Duchess' Pläne durcheinander.
Debby Stoffel
Colson Whitehead, Harlem Shuffle
New York in den Sechzigern. Ray, der aus schwierigen Verhältnissen kommt, versucht, ein ehrliches Leben zu führen.
Doch seine Herkunft holt ihn immer wieder ein und zwingt ihn, neben seinem Möbelladen krumme Geschäfte zu machen.
Ein kraftvoller, unterhaltsamer Gaunerroman!
Laurin Jäggi
ZUZU, Cheese
ZUZU, Dario und Riccardo sind beste Freund*innen. Gemeinsam rauchen sie, trinken Bier und hängen herum in der italienischen Provinz. Dabei diskutieren die drei über die banalsten Dinge und was das Leben ausmachen kann. Gemeinsam versuchen sie auszuloten, wer sie sind und wo sie hinwollen. Die Teilnahme an einem Käserollen-Wettbewerb soll ihre Freundschaft weiter stärken und stellt sich dann als Ort der Erkenntnis für die eigenen Probleme heraus. In den berührenden Zeichnungen der Graphic Novel entfaltet sich die Schwermütigkeit des Erwachsenwerdens. Gefühle, die nicht in Worte gefasst werden können, werden in den Illustrationen offengelegt.
Nicht immer wird alles ausgesprochen, der Comic lässt bewusst Lücken. ZUZU und ihre Freunde sind hautnah zu spüren. Ihre Fragen, ihre Ängste und ihre Probleme werden gerade durch das Format der Graphic Novel dem Lesenden besonders berührend vermittelt. Verpackt in Selbstironie und Zynismus diskutiert ZUZU ernsthaft und schmerzhaft verschiedene Aspekte der Selbstfindung. Die autobiografisch inspirierte Geschichte ist nicht nur eine gelungene Auseinandersetzung mit der Adoleszenz, sondern vor allem auch eine Darstellung einer spannenden, realistischen Freundschaftsdynamik. Von ZUZU, Dario und Riccardo will man sich nicht trennen, auch wenn die letzte Seite längst umgeblättert ist.
Lea Kalt
Ewald Arenz, Der grosse Sommer
Für den sechzehnjährigen Frieder fallen die Familienferien diesen Sommer aus, denn er muss Nachprüfungen in Mathe und Latein schreiben. Um diese zu bestehen, soll er die Sommerferien stattdessen bei seiner geliebten Großmutter und seinem strengen, Furcht einflößenden Großvater verbringen und unter deren Aufsicht für die Prüfungen büffeln. Was sich erst wie eine Strafe anfühlt, wird bald eine unvergessliche und prägende Zeit, denn er taucht ab in die Geschichte seiner Großeltern, erfährt Freundschaft, die erste große Liebe, Angst und Verlust. Begleitet wird er dabei von seinem besten Freund und seiner Schwester, und nicht zuletzt von Beate, die ihn nicht nur auf dem Sprungturm
beeindruckt.
Der Roman ist angesiedelt in den 1980er Jahren und liest sich leicht und unterhaltsam, richtiggehend beglückend. Dennoch ist Ewald Arenz, der uns bereits mit seinem Erfolgsroman Alte Sorten berührt hat, ein vielschichtiges und atmosphärisch dichtes Buch gelungen, das bewegt. Ein Buch, das zum Lachen und Weinen rührt und das sich übrigens auch sehr schön verschenken lässt.
Debby Stoffel
Eva Menasse, Dunkelblum
Dunkelblum ist ein kleines österreichisches Städtchen mit einem großen Geheimnis. 1989, nach Jahrzehnten der Verdrängung, werden die Einwohner erneut mit ihrer Vergangenheit und den Ereignissen aus dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert: Zufällig wird auf einem Feld ein Skelett gefunden, und gleichzeitig stellt ein Besucher aus den USA Nachforschungen an, was nicht von allen gerne gesehen wird. Hier, direkt vor dem eisernen Vorhang an der ungarischen Grenze, werden außerdem langsam, aber sicher die Umwälzungen der unmittelbar bevorstehenden Wende spürbar, erste DDR-Flüchtlinge retten sich durch die Wälder in den Westen und verstecken sich in Scheunen. Und nicht zuletzt steht auch der alte jüdische Friedhof wieder im Zentrum des Interesses, weil junge Studenten aus Wien anreisen, um die verwilderten Gräber wieder instand zu stellen. Die Ereignisse überstürzen sich, als eine junge Frau aus Dunkelblum, die mit ihnen zusammenarbeitet und sich bemüht, die Vergangenheit des Ortes aufzuarbeiten, plötzlich verschwindet.
Eva Menasse entwirft ein vielstimmiges Panorama des Städtchens und liefert zu allen Figuren auch gleich ihren jeweiligen Lebenslauf mit dazu, wie um zu verstehen, weshalb sie zu denen wurden, die sie sind. Und es wird klar: Es ist alles ein bisschen anders, als es zunächst scheint.
Doris Widmer
Helen Macdonald, Abendflüge
Seit der Lektüre von H wie Habicht von Helen Macdonald, das 2015 in deutscher Übersetzung erschienen ist, warte ich auf ein weiteres Buch dieser so begabten Autorin. Ihr großes Wissen zu Themen der Natur – in einem sehr umfassenden Sinne – hat sie sich seit ihrer Kindheit angeeignet. Und nun ist es also da, das neue Buch. In 41 Essays schreibt Macdonald über ihr Verhältnis zur Natur: »Meine Arbeit als Wissenschaftshistorikerin hat mir gezeigt, dass wir die Natur unbewusst und unausweichlich immer als Spiegel unserer selbst gesehen haben, der nur unsere eigenen Bedürfnisse, Gedanken und Hoffnungen reflektiert. Viele der Essays in diesem Buch sind Übungen im Hinterfragen menschlicher Zuschreibungen und Annahmen …«.
Das Anliegen der Autorin ist, dass wir Lesenden den Wert der Natur erkennen und uns so auch gegen das Aussterben der Vielfalt einsetzen. Und genau dies hat das Lesen dieser zum Teil sehr bewegenden Essays bei mir bewirkt. Natürlich wissen die meisten von uns, dass die Natur auch ohne uns Menschen auskommt, wir hingegen nicht ohne sie, auch wenn wir uns oft so verhalten, als wüssten wir das nicht. Abendflüge hat mich darin bestärkt, nicht ständig vorschnell Urteile zu fällen, sondern genau hinzusehen und zuzulassen, dass ich vieles einfach nicht weiß. Eine Übung in Bescheidenheit.
Susann Jäggi
Alejandro Zambra, Fast ein Vater
Als Gonzalo, die Hauptfigur dieses Romans, nach Jahren seine erste Liebe Carla zufällig wiedertrifft, verliebt er sich erneut, und die beiden geben sich eine zweite Chance. Allerdings wurde Carla in der Zwischenzeit
Mutter, und Gonzalo wird unverhofft zum Stiefvater für den 6-jährigen Vicente. Der Alltag der neu entstandenen Kleinfamilie wird auf zärtliche Weise geschildert. Gonzalo und Vicente bauen ein inniges Verhältnis auf, und so wird der junge Dichter und Akademiker »fast ein Vater« für den Jungen. Als sich das Paar nach einigen Jahren erneut trennt, verschwindet Gonzalo mit einem Stipendium nach New York.
Ein zweiter Erzählstrang beschreibt, wie die amerikanische Journalistin Pru, die eine Reportage über die chilenische Lyrikszene schreiben soll, den mittlerweile 18-jährigen Vicente kennenlernt. Dieser hat sich ebenfalls der Lyrik verschrieben, wohl um die Leerstelle seiner abwesenden Väter zu füllen. Dabei lernt Pru viele skurrile chilenische Dichter kennen, die alle um sie buhlen. Der Autor beschreibt seine Figuren mit so viel Zuneigung, dass sie trotz latentem Machismo liebenswert bleiben. Als Gonzalo nach Chile zurückkehrt, trifft er Vicente wieder, in einer Buchhandlung …
Der 1975 in Santiago de Chile geborene Alejandro Zambra, der zu den wichtigsten lateinamerikanischen Autoren seiner Generation zählt, hat einen wunderbaren, erzählfreudigen Roman geschrieben, der immer die richtige Mischung findet aus Melancholie und Humor.
Laurin Jäggi
Fabio Andina & Lorenzo Custer, Tessiner Horizonte – Momenti Ticinesi
Sich den Horizonten nähern: Fabio Andina lässt uns mit diesen kurzen Texten und Momentaufnahmen an seinem Blick teilhaben und ermöglicht es den Lesenden, poetisch und sinnlich in die abgelegene Tessiner Welt einzutauchen. Täler, Berge, Natur, Kultur. Und immer die Menschen, die Tiere, die Bewohner – Andina kreiert ein stimmiges Mit- und Nebeneinander, das auch in der Gestaltung des Buchs deutlich wird. So sind die Texte mit den Zeichnungen von Lorenzo Custer verwoben, einfache Striche, welche die Tessiner Landschaften und Dörfer zeigen. Tessiner Horizonte lebt vom Zusammenspiel von Text und Bild, Natur und Dorf, Einfachheit und Sinnlichkeit.
»Trattengo il fiato e lo sento di nuovo, come un sussurro. Arriva da lontano.«
»Ich halte den Atem an und höre es wieder, ein Flüstern. Es kommt von weit her.«
So scheint es mir als Leserin auch mit diesen Texten zu gehen, von weit her flüstern sie mir zu, lassen mich eintauchen, bis ich sie glaube zu sehen, zu hören, zu riechen: den Monte Rosa, den Lago Maggiore, die Dörfer, die Reben, die Weite.
Halina Hug
Gruss aus der Küche - 50 Jahre Frauenstimmrecht
Ist das 50-jährige Jubiläum zur Einführung des Frauenstimmrechts ein Grund zum Feiern? Angesichts der beschämend späten Einsicht eher weniger. Aber das Jubiläum ist definitiv ein Grund zur Reflexion über dieses Thema. Aus den verschiedenen Veröffentlichungen dazu folgen hier drei Lesetipps.
Im Band «Jeder Frau ihre Stimme - 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971-2021» schreiben fünf Historikerinnen über je ein Jahrzehnt. Im Zentrum stehen die Frauen, Bewegungen, Institutionen und Parteien, die sich für die Rechte der Frau eingesetzt haben. Historisch fundiert zeigen die Autorinnen die Vielfalt dieser Akteure und die Konflikte mit der bestehenden Ordnung.
Einen eher literarischen Zugang wählt das Lesebuch «Gruss aus der Küche - Texte zum Frauenstimmrecht». Es enthält Geschichten von 31 Autorinnen wie Angelika Waldis, Patti Basler, Laura De Weck oder Fatima Moumouni. Diese sehr diversen und persönlichen Stimmen erzählen zum Beispiel von ihren Grossmüttern, oder sind satirisch und politisch.
Im Sammelband «50 Jahre Frauenstimmrecht - 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung» ist ein breites politisches und gesellschaftliches Spektrum vertreten. Die anregenden Beiträge stammen von Politikerinnen, Unternehmerinnen und Kulturfrauen, unter anderem von Bundesrätin Viola Amherd, Elisabeth Kopp oder Petra Volpe.
Denise Schmid (Hrsg.). Jeder Frau ihre Stimme. Hier und Jetzt 2020. Buch bestellen
Rita Jost, Heidi Kronenberg (Hrsg.). Gruss aus der Küche. Rotpunkt 2020. Buch bestellen
Isabel Rohner, Irène Schäppi (Hrsg.). 50 Jahre Frauenstimmrecht. Limmat 2020. Buch bestellen
Die Frau mit der Maske
Jessica Jurassica ist eine Kunstfigur, die auf Social-Media mit ihrem abgefuckten und verdrogten Lifestyle provoziert und zugleich satirische Gesellschaftskritik betreibt. Wer hinter dem Pseudonym steckt, weiss man nicht, die junge Frau tritt stets mit Sturmmaske auf. Dieses Versteckspiel macht sie natürlich für die Medien umso interessanter und ist zugleich eine kluge Kritik an der öffentlichen Darstellung von jungen Frauen.
Nun ist der erste Roman von Jessica Jurassica erschienen. Die Erzählerin berichtet über einen heissen Sommer, wo alles seltsam riecht und sie eine schwerere Krise mit Weisswein in Ihrer Hängematte verbringt. Sie erzählt von Backpackerreisen und einem Ayahuasca-Trip, der sie wieder zum Schreiben bringt. Hier erzählt eine Kunstfigur in autofiktionalem Duktus über ihr Leben und reflektiert ihre Rolle als junge Frau in der Gesellschaft. Das liest sich sehr unterhaltsam und der Ton changiert von schnoddrig über wütend bis resigniert.
In der Schweizer Literatur ist Jessica Jurassica eine neuartige und einzigartige Figur, die mit ihrem eigenen Sound und mit bissiger Gesellschaftskritik überzeugt.
Laurin Jäggi
Simon Libsig, Gänx
Gänx macht ihrem Vater stets abenteuerliche Geburtstagsgeschenke. Besser gesagt, sie stibitzt sie für ihn. Doch nun steht ein runder Geburtstag an und der Vater hat einen unerfüllbaren Wunsch...
In seinem neuen Bilderbuch erzählt der Badener Autor und Bühnenpoet Simon Libsig eine witzige, berührende Geschichte. Die wunderbaren Illustrationen sind von der Aarauer Designerin und Illustratorin Sarah Hügin.
Ein wahres Gaunermärchen über ein Mädchen mit grossem Herz und langen Fingern. Eine humorvolle, liebevoll illustrierte Geschichte über stibitzte Geschenke und gestohlene Herzen.
Laurin Jäggi
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Kathrin Schärer, da sein
Kathrin Schärer hat mit Da sein ein kleines Juwel geschaffen – ein wunderbares Geschenk für Kinder und Erwachsene!
Die Schweizer Illustratorin stellt 30 Emotionen in ausdrucksstarken Tieren dar, in welchen sich Groß und Klein wiedererkennen können. Jeweils eine illustrierte Doppelseite pro Emotion bereitet sowohl Entdeckungsspaß als auch Gesprächsstoff.
Dabei bleibt Kathrin Schärer nicht »nur« bei den bekannteren – und nicht minder wichtigen – Gefühlen und Situationen, sondern überrascht mit einer weiten Bandbreite.
Glücklich sein, traurig sein, wütend sein. Aber auch: vorfreudig sein, unentschlossen sein, geborgen sein, verbunden sein. Die Genauigkeit, mit der Schärer die feinsten Facetten der jeweiligen Emotionen einfangen kann und diese durch verschiedene Tiere zeichnerisch darstellt, macht dieses Buch zu einem Genuss!
Wir bibliophilen Menschen finden uns wohl alle in dem kleinen lesenden Hasen – »in einer anderen Welt sein« – wieder, da kann man als passionierte Leserin nur sagen: »Ja, genau so!«
Halina Hug
Ottessa Moshfegh, Der Tod in ihren Händen
Auf einem Waldspaziergang mit ihrem Hund findet Vesta einen Zettel. »Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche.« Aber es ist keine Tote im Wald. Und so beginnt die einsame alte Frau darüber nachzudenken, wer Magda wohl war, ob es wirklich einen Mord gab und wer der Mörder war. Als Leser befindet man sich im Kopf der Erzählerin Vesta, die sich immer weiter in diesen Gedanken verstrickt und dabei langsam verrückt wird.
In ihrem neuen Roman hat die junge amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh abermals eine abgründige und tieftraurige Frauenfigur geschaffen. Das ist psychologisch unglaublich raffiniert geschrieben und entwickelt eine starke Spannung, obwohl kaum Handlung da ist.
Darüber hinaus ist das Buch eine Studie über Einsamkeit und Wahnsinn. Und es verhandelt die Frage, was eigentlich Wahrheit ist und was Lüge. Auf dieser zweiten Ebene spielt der Text gekonnt mit dem Genre des Kriminalromans und poetologischen Fragen zur Fiktion.
Ein messerscharfes, beklemmendes Kammerspiel, das sich im Innern der Erzählerin abspielt.
Laurin Jäggi
Eva Meijer, Das Vogelhaus
Eva Meijer ist eine niederländische Philosophin und Schriftstellerin. Sie hat sich in zwei philosophischen Texten mit den Sprachen und Rechten der Tiere befasst.
In den sehr lesenswerten Büchern Die Sprachen der Tiere (Matthes & Seitz, Naturkunden) und Was Tiere wirklich wollen (btb) hat sie anschaulich und mit vielen Beispielen gezeigt, weshalb wir Menschen Tiere nicht als Objekte, sondern als Subjekte sehen sollten und wie die gesellschaftlichen und politischen Umstände sich dadurch radikal ändern würden.
Einen leichteren und unterhaltsameren Einstieg in dieses Thema bietet Das Vogelhaus, der erste und bisher einzige Roman von Eva Meijer. Sie erzählt die wahre Lebensgeschichte von Len Howard (1894–1973), einer englischen Konzertmusikerin, die in London nicht glücklich wird. In der Mitte ihres Lebens zieht sie sich aus dem Großstadtleben zurück und kauft ein abgelegenes Haus in Sussex. Sie beginnt, die Vögel in ihrem Garten und
im angrenzenden Wald zu beobachten, und macht sich Notizen.
Daraus entstehen mehrere sehr erfolgreiche Bücher über Kohlmeisen, Rotkehlchen, Sperlinge und andere Vögel. Von Biologen und Ornithologen wird sie als Außenseiterin nicht ernst genommen, obwohl noch niemand zuvor den Umgang der Vögel mit Liebe und Eifersucht, Verlust des Partners und vielem mehr so treffend geschildert hat. Nach der Lektüre werden Sie Vögel in Ihrer Umgebung ganz anders wahrnehmen!
Susanne Jäggi
Kiley Reid, Such A Fun Age
Emira Tucker ist 25 und weiß nicht, wie weiter in ihrem Leben. Nach dem College-Abschluss jobbt sie an verschiedensten
Orten auf der Suche nach ihrem Traum. Einer dieser Jobs ist das Babysitten für die erfolgreiche Lifestyle-Bloggerin Alix und ihren Mann Peter. Direkt von einer Party wird Emira spontan zum Babysitten gerufen, um die Tochter für ein paar Stunden aus dem Haus zu bringen. Sie nimmt das dreijährige Kind in den nah gelegenen Supermarkt in der reichen weißen Gegend mit und wird prompt von einem Security-Guard beschuldigt, das Kind entführt zu haben. Denn Emira
ist schwarz und das Baby weiß. Die Situation wird erst durch die schnelle Ankunft von Peter, dem Vater, aufgelöst.
In einem anderen Buch wäre es nun lange um genau diese Situation gegangen. Doch Kiley Reid versteht es, diesen Moment nur als Ausgangsspunkt einer literarischen Diskussion um Ungleichheit und Privilegien
zu nutzen. Gekonnt spiegelt sie die Leben der beiden Frauen und zeigt ihre Unsicherheiten und Selbstbilder klar und unverfälscht. Der Text lebt von der schier endlosen Empathie, welche die Autorin ihren Figuren entgegenbringt.
Im englischsprachigen Raum wurde der Roman als großartiges Debüt gefeiert, und dies nicht nur dank seiner Aktualität. Ein Text, der über viel mehr spricht als nur Rassismus und es versteht, die Lesenden mit seinen interessanten Figuren und verwobenem Plot mitzureißen.
Lea Kalt
Astrid Lindgren, Louise Hartung: Ich habe auch gelebt – Briefe einer Freundschaft
Dieser wunderbare Briefwechsel ist in Buchform bereits vergriffen, in der Hörbuchfassung daher nur noch wertvoller und eine große Hörempfehlung. Es ist die schriftliche Korrespondenz zwischen Astrid Lindgren
und der etwas weniger bekannten, aber nicht minder interessanten und eindrücklichen Künstlerin und Bildungspolitikerin Louise Hartung. Humorvoll und zärtlich schrieben die beiden Frauen über Literatur,
Freundschaft, Kultur, das Leben, kleinere und größere Alltagsangelegenheiten und über das weltpolitische Geschehen.
Es ist ein sehr berührendes Zeitdokument der Nachkriegszeit in Deutschland und Schweden zweier kluger, inspirierender Frauen. Besonders interessant ist es dabei, mehr über das Leben von Louise Hartung zu erfahren. Sie war mitverantwortlich für den Erfolg der Pippi Langstrumpf-Bücher in Deutschland und eine leidenschaftliche Kämpferin für kindergerechte Kultur und Literatur. Im Rahmen dessen lernte sie Astrid Lindgren bei einem Besuch in Berlin kennen, und die beiden Frauen begannen eine innige Brieffreundschaft, die bei mehreren Besuchen und gemeinsamen Reisen vertieft wurde.
Lindgrens Briefe werden wundervoll gelesen von Eva Mattes, und Oda Thormeyer haucht den Briefen von Hartung Leben ein. Ein wahrlich spannendes, tiefgründiges und inspirierendes Hörerlebnis.
Debby Stoffel
T.C. Boyle, Sprich mit mir
In dem Augenblick, als die Studentin Aimee an der Tür zur Ranch von Guy Schermerhorn klingelt, um sich um einen Job als Pflegerin für seinen Schimpansen zu bewerben, ist es auch schon um sie geschehen: Sie schließt den Schimpansen Sam augenblicklich so sehr in ihr Herz, dass sie ihr ganzes früheres Leben für ihn aufgibt. Sam ist das Forschungsobjekt von Guy, der ihm eine Art Gebärdensprache beibringt und so der Welt beweisen will, dass Schimpansen lernfähig sind und mit
Menschen kommunizieren können.
Aimee kümmert sich über mehrere Jahre hinweg aufopferungsvoll um das Tier, aber nach und nach dreht der Wind, Primatenforschung ist nicht mehr gefragt, und die damit verbundenen Forschungsgelder werden gestrichen.
Sams Züchter, Dr. Moncrief, holt den Schimpansen auf seine Farm zurück und steckt ihn zu seinen anderen Affen in einen Käfig. Dort, in Dreck und Elend, soll er auf seine weitere Verwendung als Versuchstier warten.
Aimee ist verzweifelt und fährt, so schnell sie kann, nach Utah, um Sam zu retten. Sie heuert wiederum als Pflegerin bei Moncrief an und flüchtet schließlich mit Sam in einen Trailerpark. Moncrief ist ihnen jedoch auf den Fersen, und es kommt zum Showdown.
Ein unterhaltsamer Roman, der großen Fragen nachgeht: Was macht ein Tier überhaupt zum Tier? Wird das Tier menschlich, wenn es »sprechen« lernt? Oder
sind Guys Bemühungen ohnehin nur eine Dressur, ein Auswendiglernen ohne tieferes Verständnis? Große Fragen, die allerdings auch hier nicht abschließend beantwortet werden können.
Doris Widmer
Klaus Merz, Im Schläfengebiet
Zum 75. Geburtstag des Aargauer Autors ist im Haymon Verlag ein Sonderdruck erschienen: „Im Schläfengebiet“ – eine zeitlose Erzählung, lyrisch, prägnant und berührend.
Als Leser*innen begleiten wir den Protagonisten Walter durch seine Tage, durch seine letzten Tage. Walter lebt alleine und beschäftigt sich auf langen Spaziergängen mit seinem Leben, seinen vergangenen Beziehungen und mit den Anzeichen und Konsequenzen seiner epileptischen Anfälle.
Behutsam und poetisch zeigt Klaus Merz die Tagesabläufe und Erinnerungen des Epileptikers und lässt uns durch die in ihrer Einfachheit beeindruckende Sprache sowie die tiefgründigen Gedanken Walters mäandrieren.
Mit einem für Klaus Merz typischen Blick auf das Wesentliche im Kleinen lebt die Erzählung ebenso von der zarten und bildstarken Erzählweise wie der schlichten aber hoch poetischen Sprache des Autors.
Eine literarische Perle, bibliophil ausgestattet und ergänzt durch ein Begleitwort von Beatrice von Matt.
Halina Hug
Valerie Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson
In Almas Familie wird nicht viel gesprochen. Nicht über die Dinge, die in der Luft liegen. So wie der Krieg, der immer noch tief im Gedächtnis der Großmutter und des kriegsgefangenen Großvaters sitzt. Ihr Leben lang spürt auch Alma diesen Krieg, den sie nur von der Schule und dem Geflüster der Erwachsenen kennt. Als Alma dann erwachsen ist und einen Sohn gebärt, der keinen Schmerz empfinden kann, schweigt auch sie.
Die Lesende fühlt sich selbst beinahe ohnmächtig, wenn sie Alma beim Beobachten und Zuhören zusieht. Valerie Fritsch hat einen Roman geschaffen, der von Rhythmus und Sprachkraft lebt. Betont langsam folgt man der Protagonistin und genießt die hochkommenden Bilder. Oftmals fühlt es sich an wie ein warmer, langsamer Sommertag, wenn der Text lakonisch vom Schweigen spricht. Die junge Autorin beschreibt präzise, wie generationenübergreifende Traumata wirken, und ihre klaren Bilder verdeutlichen den Schmerz, der damit Hand in Hand geht.
Es ist ein Buch für Sprachgenießer und Nachdenker; für Menschen, die sich gerne komplett in Texten verlieren.
Lea Kalt
Sayaka Murata, Das Seidenraupenzimmer
Die elfjährige Natsuki fährt jedes Jahr mit ihrer Familie zum Ahnenfest in die Berge. Dort, unter ihren zahlreichen Verwandten, fühlt sie sich aufgehoben und wertgeschätzt wie sonst nirgends, denn ihre Mutter ist kalt und herablassend, der Vater gleichgültig, und die größere Schwester wird gnadenlos bevorzugt.
Auf dem Fest trifft das Mädchen wie jedes Jahr ihren Cousin Yu, dem sie sich, auch wenn sie ihn selten sieht, sehr verbunden fühlt. Mit ihm zusammen flüchtet Natsuki sich in eine Scheinwelt, die beiden Außenseiter erdichten sich Superkräfte und glauben fest, sie seien Außerirdische auf der Durchreise.
Was der Leser bei einem elfjährigen Kind zunächst noch als fantasievolle Spielerei begreift, ist in Wahrheit ein Schutzmechanismus, dessen Notwendigkeit man noch nicht erahnt.
Die Schwärmerei füreinander wird den beiden schon bald zum Verhängnis, und Natsuki wird fortan konsequent von der Verwandtschaft ferngehalten.
Zwanzig Jahre später treffen wir Natsuki erneut, die Erwartungshaltung der japanischen Gesellschaft ist ihr fremder denn je, zu vieles wurde in ihrer Jugend zerstört.
Als sie nach so langer Zeit wieder in das alte Haus in den Bergen fährt und Cousin Yu wiedertrifft, sieht es zunächst nach einem Happy End aus …
Das neue Buch der noch relativ jungen Schriftstellerin ist ungleich beklemmender und aufwühlender als sein Vorgänger, Die Ladenhüterin, lässt aber ebenso tief in die Abgründe der japanischen Seele blicken.
Doris Widmer
Joachim B. Schmidt, Kalmann
Kalmann Óðinnsson, der Ich-Erzähler dieses Romans, lebt im abgelegenen Dorf Raufarhöfn. Er verbringt seine Tage mit der Jagd auf Polarfüchse und mit Haifischfang. Alles, was er darüber weiß, hat er von seinem Großvater gelernt. Dieser lebt aber mittlerweile in einem Altersheim weit weg von Kalmann und leidet an Demenz. Auch seine Mutter sieht er nur selten, weil sie als Pflegerin in einem Spital arbeitet. So lebt Kalmann alleine in dem alten Häuschen und kommt ganz gut zurecht, findet er. Denn er weiß, dass die anderen Dorfbewohner in ihm den »Dorftrottel« sehen und denken, dass »in seinem Kopf bloß Fischsuppe« sei.
Als der »Dorfkönig« und Besitzer des einzigen Hotels verschwindet und Kalmann im Schnee eine Blutlache entdeckt, überschlagen sich die Ereignisse, und Kalmann findet sich plötzlich mitten in einem Kriminalfall. Der Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt, der seit 2007 in Island lebt, hat mit Kalmann eine wunderbare Romanfigur geschaffen. In seiner Einfachheit und Naivität stecken unglaublich viel Charme und Lebensweisheit. Eine unterhaltsame, spannende und herzergreifende Lektüre.
Laurin Jäggi
Charlotte Wood, Ein Wochenende
Die australische Schriftstellerin Charlotte Wood (* 1965) hat einen klugen und spannenden Roman über die jahrzehntelange Freundschaft von vier Frauen geschrieben. In jungen Jahren lernen sich vier sehr verschiedene Frauen kennen, treffen sich regelmäßig in Sydney im Restaurant von Jude, einer leidenschaftlichen Gastronomin, und feiern die Erfolge von Adele, die Schauspielerin ist. Und da sind noch Sylvia und Wendy, Letztere ist eine feministische Intellektuelle. Nach dem Tod von Sylvia (über die wenig zu erfahren ist) treffen sich die drei Übriggebliebenen in deren altem Strandhaus, um es leer zu räumen. Es soll verkauft werden.
In diesem Ferienhaus hatten die Freundinnen immer wieder gemeinsam Weihnachten gefeiert oder sich auch sonst getroffen. Die drei Freundinnen fühlen sich unsicher, sie wissen nicht, wie sie einander begegnen sollen. Die gestorbene Freundin war die Verbindende und Stabilisierende der vier, das neue Trio ist fragil. Die Frauen haben sehr unterschiedliche Leben gelebt und sind auch verschieden. Dieses Wochenende – es ist sehr heiß und zudem Weihnachten – lässt die Unterschiede stark hervortreten. Alle drei stellen ihre Freundschaft infrage und beobachten sich gegenseitig kritisch. Sie sind nicht nur mit dem Verlust der Freundin beschäftigt, sondern auch mit anderen Verlusten, das beginnende Alter treibt sie alle um. Beim Räumen der Bücher, Bilder und Schallplatten kommen viele Erinnerungen hoch: Ihre Erwartungen ans Leben, an ihre Zukunft. Und nun ist diese verbleibende Zeit nur noch kurz, absehbar.
Charlotte Wood ist ein unterhaltsamer und literarisch anspruchsvoller Roman über Freundschaft gelungen.
Susanne Jäggi
Charles Dickens, David Copperfield
Wer wieder einmal einen Klassiker der Weltliteratur lesen möchte, ist mit David Copperfield gut bedient. Der seitenreiche Kindheits- und Jugendroman gilt als Lieblingsroman des bedeutenden Autors Charles Dickens (1812–1870). Wie auch in seinen anderen Werken bietet Dickens ein realistisches Bild seiner Zeitgenossen, das insbesondere auch die Erfahrungswelt der Unter- und Mittelschicht zeigt.
In einer fiktiven Autobiografie geht der Ich-Erzähler und Schriftsteller David Copperfield rückblickend seinem Leben und seinen Erfahrungen nach. Im England der beginnenden Industrialisierung hat David einen harten Start ins Leben und muss bereits in frühen Kindesjahren Verlust und brutale Schulbedingungen erfahren sowie die Härte der Fabrikarbeit ertragen. Dickens schildert den Entwicklungsweg des Ich-Erzählers mit ebenso großem Realismus wie mit Witz und Gefühl. Das 1846/1850 zunächst als Fortsetzungsroman erschienene Werk lebt von seiner cineastischen Qualität und zeichnet sich durch vielfältige Figuren aus, deren jeweils eigene Charaktere vom ersten Erscheinen an deutlich werden und den Roman leben lassen.
Eine wunderbare Lektüre für kalte Herbst- und Winterabende mit einer Tasse Punsch à la Mr Micawber.
Halina Hug
Frances Hardinge, Schattengeister
Mit Schattengeister ist der englischen Autorin Frances Hardinge eine überraschend vielschichtige und spannende Mischung aus Fantasy und historischem Roman gelungen. Dieses Jugendbuch wurde 2019 für den englischen Jugendbuchpreis Carnegie Medal nominiert. Es spielt vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs und erzählt die Geschichte des Mädchens Makepeace, das mit seiner Mutter in einem puritanischen Dorf aufwächst. Makepeace hebt sich dort besonders ab, weil sie Geister von Verstorbenen in sich aufnehmen und mit diesen ihren Körper teilen kann. Als ihre Mutter stirbt, macht sie sich auf die Suche nach ihren väterlichen Vorfahren und stößt auf ein böses und uraltes Familiengeheimnis. In den politischen Unruhen des aufkommenden Krieges flieht sie vor ihrer mächtigen Familie und versucht mit allen Mitteln, das Leben ihres Bruders wie auch ihr eigenes vor ihren Vorfahren zu retten. Auf ihrer Flucht begegnet sie gewieften Geheimagentinnen, argwöhnischen Bauern, traumatisierten Soldaten, von der Pest geplagten Ärzten und vielenGeistern.
Dabei findet sie neue Verbündete gegen ihre Verfolger, die ihr dicht auf den Fersen sind. Besonders schön ist ihre Freundschaft zu Bär, einem misshandelten Tanzbären, dessen Geist sie versehentlich in sich aufnimmt und der ihr immer wieder Schutz und Trost gibt.
Debby Stoffel
Elizabeth Strout, Die langen Abende
«Olive, again» – so der englische Titel von «Die langen Abende» – und man möchte es fast schreien: Elizabeth Strout, again! Die amerikanische Autorin hat sich erneut an ihre beliebte Figur Olive Kitteridge («Mit Blick aufs Meer») gewagt, wie dankbar können wir Leser*innen ihr dafür sein.
Elizabeth Strout ist eine Meisterin der klaren Sprache und von Figuren, die einem ans Herz wachsen. «Die langen Abende» zeigt uns die barsche, aneckende und dennoch liebenswerte Olive Kitteridge in ihrer zweiten Lebenshälfte. Der Roman thematisiert das Älterwerden der Protagonistin und ihren Umgang mit den Veränderungen, die das Leben mit sich bringt. Situiert im kleinen Städtchen Crosby an der Küste von Maine, führt uns Strout durch Olives Leben: Ihre zweite Ehe, die Auseinandersetzung mit dem ihr fremd gewordenen Sohn, die Erfahrung von Einsamkeit und Verlust, die Begegnung mit Menschen und ihren Geschichten. Und wie immer bei Elizabeth Strout ist es ihre sprachliche Präzision, die diese Geschichten trägt, ein Ton, den man wiedererkennt. Olive, again, Elizabeth Strout, again! «Die langen Abende» ist ein Buch zum Eintauchen, zum Geniessen, eines bei dem man sich wünscht, dass es doch bitte nicht ende.
Halina Hug
Emma Yarlett, Drachenpost
Der kleine Alex findet in seinem Keller einen Drachen. Einen echten, riesigen, feuerspeienden Drachen. Und wer bei feurigen Problemen helfen kann, weiss Alex genau: Da muss ein Brief an die Feuerwehr her. Und er bekommt prompt eine Antwort vom Feuerwehrmann A.Larm. Doch die Lösung vom Herrn A.Larm reicht Alex nicht. Noch mehr Hilfe, noch mehr Briefe müssen geschrieben und verschickt werden. Ausserdem bringt ein Drache im Haus einige Schwierigkeiten mit sich, die Alex nicht hat kommen sehen. "Drachenpost" ist ein humorvolles Bilderbuch für gross und klein. Mit den liebevoll gestalteten Illustrationen und den vielen Wortspielen gibt es für alle etwas zu entdecken. Besonders anregend sind die Briefe, die sich rausnehmen und auseinanderfalten lassen. Gerade diese sprühen vor Kreativität und Wortwitz. Die Autorin Emma Yarlett hat Illustration studiert und brilliert in ihrem ersten auf Deutsch erschienen Kinderbuch. Ein besonderes Lob verdient jedoch auch Übersetzer Ebi Neumann, der die Texte zu einem wahren Lesespass macht. Alex und sein Drachen wachsen einem ans Herz und lassen einem nicht so einfach wieder los.
Lea Kalt
Bruno Manser - Tagebücher aus dem Regenwald 1984-1990
Verschollen. Im Urwald Sarawaks. Worte so faszinierend wie beängstigend.
Bruno Manser, 1954 in Basel geboren, war auf der Suche nach dem ursprünglichen Leben in Einheit mit der Natur - einem Leben fern der Zivilisation. Mit 30 Jahren nahm der Neugierige alle Strapazen und Risiken auf sich, um das urtümliche Nomadenvolk der Penan zu finden. Manser wurde in ihre Gemeinschaft aufgenommen und verbrachte die Jahre 1984 bis 1990 im Dschungel Borneos. Er unterstützte die Penan im Kampf gegen die Abholzung ihres Lebensraumes und kämpfte fortan gegen die Rodung des Regenwaldes und den Handel mit Tropenholz. Der dafür in der Schweiz gegründete Bruno Manser Fond engagiert sich noch heute für diese Anliegen.
Die Tagebücher zeigen aber weniger den Regenwaldschützer und Menschenrechtsaktivisten als den interessierten und talentierten Menschen Manser. Besonders beeindrucken die genauen Zeichnungen, welche seine Tagebucheinträge begleiten. Auch die detaillierte Beschreibung seiner Erlebnisse machen die Abenteuer Mansers erstaunlich nachempfindbar. 2004, vier Jahre nach seinem Verschwinden, wurden Bruno Mansers Tagebücher erstmals veröffentlicht. Die sorgfältig überarbeitete Neuauflage enthält nun auch eine grossformatige Landkarte mit Ortsregister und Franz Hohlers berührendes Gedicht «Für Bruno, wo immer er ist».
Lea Müller
Nicole Giger, Ferrante, Frisch und Fenchelkraut
Das erste Buch dieser Art ist es nicht – aber bei Weitem das schönste! Nicole Giger, eine junge Schweizerin und erfolgreiche Food-Bloggerin verknüpft gekonnt ihre Lese – und Reiseerlebnisse mit dazu passenden Rezepten, mäandert zwischen Ländern, Kontinenten und kulinarischen Einflüssen und kreiert daraus ihre ganz eigenen Gerichte mit Geschichte.
Nicole Giger präsentiert hier keine klassischen Spezialitäten aus fernen oder auch nicht so fernen Ländern, diese sind oft nur Vorbild für moderne, leichte und frische Kreationen, die in diesem wunderschönen und hochwertig gestalteten Kochbuch zum Nachkochen animieren.
Die Wahl fällt schwer: Lieber gefüllte Süsskartoffeln nach Südstaaten-Art (weil Mark Twain Süsskartoffeln liebte)? Oder doch eher Quitten-Pecan-Crumble (sehr, sehr frei nach Goethe und Schiller)? Oder vielleicht doch den Linsensalat mit gerösteten Karotten (weil Linsen bei Günther Grass ein Glücksgefühl auslösen)?
Ein Glücksgefühl stellte sich auch bei mir ein, vom ersten Augenblick an, als ich das Buch in den Händen hielt - und es hält auch weiter an, nach der Feuertaufe in der eigenen Küche.
Doris Widmer
Tragikomische Familie
Alfred von Ärmel entstammt einem alteingesessenen Berner Adelsgeschlecht, das sich im Niedergang befindet. Er ist der letzte Spross, der den ruhmvollen Namen weitergeben könnte. Sein älterer Bruder ist spurlos verschwunden, seine exaltierte Mutter kümmert sich nur um sich selbst, und sein Vater dämmert vor sich hin. Nur seine Grossmutter, die das viele Geld kontrolliert, scheint ebenfalls an die Zukunft der Familie zu denken. Alfred übernimmt nun die Familienverantwortung, den ruhmreichen Namen weiterzuführen und ein Held zu werden. Das Problem ist nur, die Mädchen in seiner Schule schauen ihn nicht einmal an und er hat absolut keine Fähigkeiten, die ihn zum Helden machen könnten. Immerhin ist er der Held dieses witzigen Romans und wir schauen ihm dabei zu wie er von einer skurrilen Situation in die nächste Absurdität taumelt. Dabei werden die Figuren, so schräg sie auch sind, nie der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern werden menschlich gezeichnet, gerade durch ihr stetes Scheitern.
Lukas Linder ist 1984 im Kanton Zürich geboren und schreibt für das Theater, «Der Letzte meiner Art» ist sein Romandebüt. Dem Autor gelingt ein wunderbar skurriler, tragikomischer Roman, mit einer eigenständigen Sprache und viel Situationskomik. Lautes herauslachen ist bei der Lektüre zu erwarten!
Laurin Jäggi
Victor Jestin, Hitze
Der 17-jährige Léonard verbringt die Sommerferien mit seinen Eltern auf einem grossen Campingplatz an der französischen Atlantikküste. Seine Eltern, Geschwister und die anderen Gäste geniessen ihren Urlaub, doch der introvertierte Junge hasst die Fröhlichkeit, den Sommer und die läppischen Aktivitäten. Am meisten aber hasst er seine Altersgenossen, die jeden Abend am Strand feiern, sich betrinken und miteinander anbandeln. In der vorletzten Nacht der Sommerferien beobachtet Léonard den Suizid eines Jugendlichen. Er hätte ihn retten können, doch er schaut reglos zu und versteckt die Leiche im Sand, warum weiss er selbst nicht. Geplagt von Schuldgefühlen und gelähmt durch die Angst entlarvt zu werden, taumelt er durch die letzten Stunden der Ferien. Dazu kommt die unerträgliche Rekordhitze und die verführerische Luce, die sich plötzlich für ihn zu interessieren scheint.
Der Debutroman des 1994 geborenen Victor Jestin ist ein intensives Leseerlebnis. Komisch und ätzend wird das Urlaubsleben auf einem Campingplatz geschildert. Die Spannung und Überreiztheit, die auf dem jugendlichen Protagonisten lastet ist greifbar und erbarmungslos wie die Hitze!
Laurin Jäggi
Ruth Michel Richter, Konrad Richter: Wandern wie gemalt, Gotthardregion
Liebe treue LeserInnen unseres Magazins: Erinnern Sie sich noch an unser 5plus Frühjahrs-Magazin von 2015? Wir haben Ihnen damals die Journalistin Ruth Michel Richter und den Fotografen Konrad Richter vorgestellt, die damals zwei Kunst-Literatur-Wanderbücher geschrieben hatten.
Nun liegt ein weiterer Wanderführer dieser einmaligen und geglückten Reihe vor. Im neuen Band geht es um die Gotthardregion, die vier Schweizer Kantone umfasst: Uri, Graubünden, Tessin und Wallis. Das sind vier unterschiedliche Kulturen, drei Sprachregionen, eine reiche Geschichte und viele faszinierende Gemälde. Angefangen beim Gotthardpass – die kürzeste Nord-Süd-Verbindung und zugleich historische Mythenmaschine im Herzen der Schweiz – und nicht ganz unbescheiden: im Zentrum Europas.
Und auch diesmal gilt: Sie können diese vierzehn attraktiven Wanderungen bequem von zu Hause aus nachlesen und die ausgewählten Gemälde mit der heutigen Situation vergleichen oder Sie können diese gut beschriebenen Wanderungen selbst unternehmen und wie Ruth Michel und Konrad Richter die Malstandorte aufsuchen und nebst frischer Luft und gesundem Wandern viel über die Künstler, Kunstgeschichte, aber auch Ortsgeschichte, Tourismusentwicklung und Eigenheiten der Region erfahren. So oder so wünscht Ihnen dabei viel Vergnügen,
Susanne Jäggi
Daniel de Roulet, Wenn die Nacht in Stücke fällt
Beglückend ist es, dass einer, der so schön schreibt, seine Faszination für das späte Werk Ferdinand Hodlers ausdrückt. Daniel de Roulet ist nicht der Einzige, der von den Gemälden und Skizzen des berühmten Schweizer Malers begeistert ist. Umso mutiger scheint es, dies in einem persönlichen Brief an Ferdinand Hodler mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Hodler hat in seinen späten Jahren ungeschönt aber mit zärtlichem Blick das Ableben seiner grossen Liebe Valentine Godé-Darel zeichnerisch dokumentiert. Es sind diese Bilder, die den berühmten Maler als Menschen und Mann vermeintlich erfahrbar machen und so einen grossen Kontrast zu seinem frühen Werk darstellen.
Respektvoll zeichnet de Roulet Hodlers berührende Lebens- und Liebesgeschichten nach und verknüpft sie auch mit den eigenen. Wo keine Fakten bekannt sind, öffnet de Roulet gekonnt den Raum für Interpretation und Phantasie. Zudem bieten die kritischen Einschübe über die Vereinnahmung von Hodlers Werk durch andere Rezipienten eine anregende Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung von Kunst. Ein Bijou!
Lea Müller
Marko Dinic, Die guten Tage
Im sogenannten „Gastarbeiterexpress“ von Wien nach Belgrad sitzt der Protagonist dieses Romans, ein junger Mann jener verlorenen Generation, die den Krieg auf dem Balkan als Kinder erlebt haben. Erstmals nach zehn Jahren fährt er zurück in seine Heimatstadt zur Beerdigung seiner geliebten Grossmutter. Sie war es, die ihm geraten hatte, das Land zu verlassen und ihn auch mit dem nötigen Geld versorgt hatte. Wie die anderen Passagiere des Busses ist er ein Exilant mit zerrissener Identität, weder im Herkunfts- noch im Gastland wirklich zuhause. Voller Wut verliess der namenlose Ich-Erzähler Serbien. Er war wütend auf die Generation seines Vaters, die machohaft, gewalttätig und patriarchal ist, die den Krieg bejubelte und ein Land voller Angst, Hass ohne Zukunft hinterliess. Diese Wut richtet sich vor allem auf seinen Vater, sein „persönliches Monster“. Die Handlung des Romans spielt an nur drei Tagen, das Buch ist aber voller Erinnerungen des Protagonisten an seine Kindheit, die in vielerlei Hinsicht kaputte Stadt und seine Schulzeit.
Marko Dinić legt einen Text vor, der wütend ist und roh. Diese Intensität die Ungeschliffenheit und das Fragmentarische passen sehr gut zum Thema dieses grossartigen Debutromans.
Laurin Jäggi
Sir Arthur Conan Doyle, Der Hund der Baskervilles
Sherlock Holmes, der geniale Meisterdetektiv und sein bodenständiger Partner Dr. Watson werden von einem jungen Landarzt aus dem Dartmoor beauftragt, den Tod seines Nachbarn und Freundes Charles Baskerville zu untersuchen. Angeblich lastet auf dessen Familie ein Fluch, bei welchem immer wieder Familienmitglieder sterben, weil sie von einem riesigen, blutrünstigen Geisterhund angefallen werden.
Nun soll der nächste Verwandte und letzte der Baskervilles, Sir Henry in das Familienanwesen einziehen; ein junger Mann, der sein bisheriges Leben in den USA verbracht hatte. Da es Sherlock Holmes nicht als sinnvoll erachtet, dass dieser alleine in das einsame Haus am Moor zieht, reist Dr. Watson mit ihm zusammen und beginnt, die weit verstreuten Nachbarn von Baskerville Hall genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn beide, Holmes und Watson, sind sich sicher: Übersinnliches ist hier nicht im Spiel.
Der Roman war einer der ersten, klassischen Kriminalromane und ein Gesellschaftsroman der Jahrhundertwende, aber nichtsdestotrotz enorm spannend zu lesen und kaum aus der Hand zu legen. Auch für jene, die hin und wieder in englischer Sprache lesen, ist das Buch gut zu meistern und so natürlich noch authentischer!
Doris Widmer
Madeline Miller, Ich bin Circe
Circe ist die Tochter des mächtigen Sonnengottes Helios, hat selbst aber keine göttlichen Fähigkeiten. Auch davon abgesehen unterscheidet sie sich von den anderen Göttern und lebt im Schatten ihrer weiter entwickelten Geschwister – bis sie gegen die Gesetze der Götter verstösst und auf eine einsame Insel verbannt wird. Was als Gefängnis gedacht war, bedeutet für Circe aber Freiheit und ihre Verbannung ist der Beginn ihrer persönlichen Evolution. In Abwesenheit der glänzenden, machtgierigen Gottheiten entwickelt sich Circe zur mächtigsten Zauberin und findet in ihrem Exil zu sich selbst. Der Pageturner beschreibt Circes abenteuerliches Leben voller Sehnsüchte, Gewalt, Leidenschaft, Mutterliebe, Fantasie, Freundschaft, Angst und Liebe. Es ist die fesselnde Geschichte einer starken, unabhängigen Frau, die für ihre Werte und Menschlichkeit kämpft. Wie es ein unsterbliches Leben als Göttin so mit sich bringt, umspannt ihre Geschichte mehrere Generationen und somit auch viele andere griechische Helden und Gottheiten. Die vielen Mythen, die mit Circes Leben verwoben sind, wirken dabei nie forciert. So ist es eine grosse Freude, wenn Circe zum Beispiel auf den Minotaurus, Ikarus und Daidalos trifft. Man wünscht sich, die Geschichte wäre nie zu Ende, ein Buch, das bewegt und stärkt.
Debby Stoffel
Alain Claude Sulzer, Unhaltbare Zustände
Der 1953 geborene Schriftsteller schreibt seit 1983 Romane, seinen Durchbruch hatte er 2004 mit «Ein perfekter Kellner». Viele seiner Romane widmen sich fiktiven Biografien, wie zum Beispiel in «Postscriptum», das die Geschichte des Schauspielers Lionel Kupfer erzählt oder wie im neuen Roman, dessen Hauptfigur Schaufensterdekorateur in einem grossen Warenhaus in Bern ist. Stettler ist Anfang sechzig und arbeitet seit Jahrzehnten als Chefdekorateur im «Quatre Saisons» der Besitzerfamilie Schuster. Dazu gibt es eine reale Vorlage: Es ist das 1899 gegründete Warenhaus Loeb in Bern. Stettler beginnt sein Alter zu spüren, an sich selbst aber auch an seiner Umgebung: Es ist das Jahr 1968, auf dem Münster wird eine Vietcong - Fahne gehisst und die jungen Frauen und Männer kleiden und benehmen sich sichtbar anders. Sehr zum Missfallen von Stettler, der nichts mehr wünscht, als dass alles seinen gewohnten Gang geht. Nun macht der Aufbruch auch vor seiner Arbeit keinen Halt, ohne weitere Erklärungen stellen ihm seine Patrons einen Mitarbeiter zur Seite, den er bald als seinen grössten Feind erlebt: Alles soll anders werden, spektakulärer, noch nie dagewesen. Stettler zieht sich noch mehr in seine einsame, skurrile Welt zurück, die mich immer wieder an eine Robert-Walser-Welt erinnert.
Ich habe diesen wunderbaren Roman über einen Aussenseiter, der sich gegen den Wandel auflehnt, ohne abzusetzen gelesen.
Susanne Jäggi
Ocean Vuong, Auf Erden sind wir kurz grandios
«Lass mich von vorn anfangen. Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist.»
Ocean Vuongs Debütroman ist ein Brief des Protagonisten an seine Mutter, die ihn nie lesen wird. Eine Analphabetin, die kaum Englisch kann. Sie ist das Resultat eines Krieges, das Kind einer Vietnamesin und eines amerikanischen Soldaten. «Auf Erden sind wir kurz grandios» ist das Aufarbeiten einer Kindheit, eine Reise in die Vergangenheit des Krieges in Vietnam und der Konsequenzen, die ein solcher Krieg auch für die Nachkommen mit sich bringt. Der mehrfach ausgezeichnete Lyriker Ocean Vuong bringt in seinem Roman einfühlsam und dringlich die Geschichte einer Familie zu Papier und trifft einen als Leser*in im Innersten durch seine poetische Sprache. Eine Sprache, die in sich stimmig den Themen des Romans nach geht und einem durch ihre Poetik und mit überraschenden Bildern emotional einnimmt «Was sind wir, wenn nicht das, was das Licht von uns behauptet?»
Ein kraftvolles, eindrückliches Debüt über Liebe, Gewalt, Grenzen, Weisheit, Versöhnung und Schmerz.
Halina Hug
Nathalie Schmid, Gletscherstück
Nathalie Schmids neuster Lyrikband versteht es, eine sanfte Sehnsucht auszulösen. Eine Sehnsucht nach Erinnerungen, nach Gerüchen, nach Bildern, fassbar und doch nicht ganz, wie ein Spiegelbild oder ein Lichtstrahl, der durch die Wolken dringt. Mit «Gletscherstück» legt die in Freienwil wohnhafte Autorin Nathalie Schmid ihren dritten Gedichtband vor.
In vier Kapiteln spricht die Stimme der Lyrikerin Nathalie Schmid zu den Leser*innen und vermag es Natur, Leben und Lektüresituationen stimmungsvoll ineinander zu verweben. Eindrücklich kraftvoll sprechen die Worte dabei von der Ich-Stimme her, um gleichwohl die Lesenden selbst zu spiegeln. Durch die Stimme des Ichs werden die Leser*innen mit dem konfrontiert, was sich Leben nennt. Eindringliche Gedichte und sprachliche Prägnanz – eine besondere Leseerfahrung!
Halina Hug
Julian Barnes, Die einzige Geschichte
Julian Barnes und das Librium: Das ist eine alte Liebesgeschichte. Die Verliebtheit begann 1982 mit dem Buch „Als sie mich noch nicht kannte“ und wurde zur bedingungslosen Liebe drei Jahre später mit „Flauberts Papagei“. Eine ganz und gar einseitige Liebe. Über die Liebe hat Barnes immer wieder geschrieben. Er verwendet oft den Kunstgriff, die zwei Beteiligten einzeln zum Leser sprechen zu lassen. „Das gibt mir als Autor viel Freiheit. Die Liebe ist eine intime Geschichte. Jeder Mensch, der in eine Beziehung involviert ist, hat eine eigene Auffassung von dieser Beziehung“, schrieb er einmal über den Grund, weshalb seine Romane so faszinieren. Doch nun hat er diesen Kunstgriff nicht mehr anwenden können: In „Lebensstufen“ erzählt er von seiner Ehe mit Pat Kavanagh, die 2008 starb.
Auch in seinem neuesten Roman »Die einzige Geschichte« ist er der alleinige Erzähler: Es geht um die erste Liebe des neunzehnjährigen Paul, der sich in die beinahe zwanzig Jahre ältere Susan verliebt. Mehr Inhaltsangabe gibt es hier nicht. Je weniger wir über den Inhalt dieses Buches wissen, desto besser entfaltet sich die Geschichte vor uns Lesern. In grosser Meisterschaft lässt Barnes uns an dieser hinreissenden, traurigen, witzigen Liebegeschichte teilhaben. Raffiniert aufgebaut verrät er nur jeweils so viel, dass wir neugierig weiterlesen und unsere schnell gemachten Urteile ständig gekippt werden. Bitte lesen.
Susanne Jäggi
Hank Green, Ein wirklich erstaunliches Ding
Die Frage, wie wohl unser erster Kontakt mit Ausserirdischen aussehen würde, stellen sich Autoren und Filmemacher schon seit Jahren. Doch nur selten so vielschichtig und aussergewöhnlich wie Hank Green in seinem Debütroman. April May ist eine junge New Yorkerin, die nach dem College mit einem Job bei einem Start-Up feststeckt. Auf dem Heimweg nach einer besonders anstrengenden Nachtschicht steht ihr plötzlich eine über drei Meter hohe Samurai Statue gegenüber. Im ersten Moment hat sie für diese übertriebene New Yorker Kunstinstallation nur Verachtung übrig. Doch sie stockt, macht ein Video von sich und «Karl», wie sie die Statue tauft, und lädt es online. Am nächsten Morgen erwacht sie als weltweite Berühmtheit. Karls gibt es auf einmal überall auf der Welt; und niemand weiss, wie sie dorthin gekommen sind.
So interessant die Prämisse, so viel besser die Story. Nicht nur ist es ein spannendes, mitreissendes Science-Fiction Drama, ganz nebenbei ist es die Geschichte von plötzlicher Berühmtheit und was sie anrichtet. Hank Green ist wohl einer der wenigen, der die Geschichte so authentisch erzählen kann. Selbst Internetpersönlichkeit beinahe über Nacht kennt er die Verlockungen und Tücken wie nur wenige und weiss auch davon zu erzählen. Und dabei verpackt er das Ganze in eine rauschend schnelle Geschichte mit, ich warne, packendem Cliffhanger.
Lea Kalt
Kathrin Schärer, Der Tod auf dem Apfelbaum
In diesem Bilderbuch greift die grossartige Schweizer Illustratorin und Autorin Kathrin Schärer ein altes Märchenmotiv auf.
Der alternde Fuchs ist frustriert, weil sich zunehmend andere Tiere an «seinem» Apfelbaum bedienen und immer weniger Früchte für ihn übrigbleiben, da er die Vögel, Eichhörnchen und Mäuse nicht mehr schnell genug vertreiben kann. Als der Fuchs eines Tages ein Zauberwiesel fängt, das ihm einen Wunsch erfüllt, wenn er es verschont, wünscht er sich, dass alle Tiere auf dem Baum kleben bleiben. Ausser er selbst, und die Bienen - natürlich. Sein Wunsch geht in Erfüllung und tatsächlich trauen sich bald keine Tiere mehr an seinen Apfelbaum. Der Fuchs lebt fortan in Hülle und Fülle. Bis eines Tages sein Tod vorbei kommt, um ihn zu holen. Mit einer List gelingt es dem Fuchs, seinen Tod auf den Apfelbaum zu bannen. Für den Fuchs bedeutet dieser Triumph Unsterblichkeit. Doch als seine Gefährtin alt wird und stirbt und er auch seine Kinder und alle seine Freunde überlebt, merkt er, dass er immer einsamer wird. Er ist inzwischen alt und gebrechlich und gehört nirgends mehr dazu. Endlich befreit er seinen Tod vom Baum und geht mit ihm weg. Ein wunderschönes Bilderbuch über das Thema Tod, das behutsam und mit feinem Humor verbildlicht, dass der Tod zum Leben gehört.
Debby Stoffel
Graham Norton, Eine irische Familiengeschichte
Ihre Mutter ist gestorben und Elizabeth kehrt in ihr irisches Heimatstädtchen zurück, um deren Haus aufzuräumen und zu verkaufen. In den Hinterlassenschaften ihrer Mutter Patricia stösst sie auf einen Stapel Briefe von einem Mann, der sich bald als ihr nie gekannter Vater entpuppt. Elizabeth beschliesst, ihrer Familiengeschichte auf den Grund zu gehen.Um nicht als alte Jungfer zu enden, war Patricia in den sechziger Jahren aus ihrem beschaulichen Leben ausgebrochen, auf der verzweifelten Suche nach einem Mann. Nach ein paar Monaten kehrte sie mit einem Säugling im Arm in ihr Heimatdorf zurück und bewahrte ihr Leben lang Stillschweigen über das, was in der Zwischenzeit geschehen war.In alternierenden Kapiteln erschliessen sich dem Leser nach und nach die Geschichten sowohl von Elizabeth als auch von ihrer Mutter Patricia. Die Lücke der verschwiegenen Monate wird langsam gefüllt, und wie so oft ist danach nichts mehr so, wie es zu Beginn den Anschein machte.
Graham Norton erlangte als Schauspieler und Comedian Bekanntheit, letztes Jahr erschien sein erster Krimi »Ein irischer Dorfpolizist«. Mit seinem ersten Roman beweist er nun eindrücklich, dass er sich auch in dieser Gattung äusserst souverän bewegt.
Doris Widmer
Susan Hill, Stummes Echo
Die englische Schriftstellerin Susan Hill ist im deutschen Sprachraum noch wenig bekannt. In Grossbritannien hingegen ist die 1942 geborene Autorin sehr erfolgreich und wird mit Preisen ausgezeichnet.
Der Roman »Stummes Echo« dreht sich um vier Geschwister, die auf einem abgelegenen Bauernhof in Nordengland aufwachsen. May, die immer als die Klügste der vier galt und ein Stipendium erhält, bricht ihr Studium in London nach einem Jahr ab und kehrt zurück auf den elterlichen Hof, wo sie vor Angstattacken verschont bleibt. Fortan kümmert sie sich um den Hof und die Eltern bis diese sterben. Ihr Bruder Frank, der verschlossene, seltsame Junge, blüht in London erst auf und macht Karriere als Journalist. Er lässt seine Herkunft hinter sich und bricht den Kontakt zur Familie ab. Doch dann veröffentlicht er einen Roman, in dem er seine von Leid und Gewalt geprägte Kindheit beschreibt. Das Buch wird ein Bestseller und wird auch im Herkunftsort diskutiert. Seine drei Geschwister fragen sich, warum Frank diese Lügen verbreitet. Sie hatten doch eine schöne Kindheit, oder etwa nicht? Ein lebenskluges, eindrückliches Buch darüber, wie trügerisch Erinnerungen sein können. Meisterhaft, wie in dem schmalen Roman eine grosse Familiensaga erzählt wird.
Laurin Jäggi
Michelle Steinbeck, Eingesperrte Vögel singen mehr. gedichtet und geträumt
Nach ihrem Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch», welcher für den Deutschen, sowie den Schweizer Buchpreis nominiert war, ist Michelle Steinbeck sicherlich keine Unbekannte mehr im deutschsprachigen Literaturraum. Nun legt die 29-Jährige ihren ersten Lyrikband vor – und überrascht mit provozierender Sprache und ungezähmten Gedichten, die einen auch zum Lachen bringen können.
am bahnhof tauben auf den elektrodrähten betrachtet
am boden tun die ja so bemitleidenswert aber dort oben sind sie ziemliche player
Steinbeck konfrontiert ihre Leser*innen mit dem Blick einer aufmerksamen, jungen Frau. In dem in fünf Kapitel unterteilten Lyrikband spielt auch der Untertitel «gedichtet und geträumt» eine wichtige Rolle: Das Groteske, welches man schon von Steinbecks Roman kennt, wird auch in ihrer Lyrik deutlich. Verbunden mit ihrer präzisen Sprache und dem Thema des Schreibens an und für sich schafft Steinbeck kleine Alltagswelten und provoziert inhaltlich mit dem Bruch im Erwarteten.
Junge Lyrik – erfrischend, wild, empfehlenswert!
Halina Hug
Demian Lienhard: Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat
Mit seinem Debütroman zeichnet der Badener Demian Lienhard den Weg seiner Protagonistin Alba mit Witz und einer gewissen Kompromisslosigkeit. Die Schülerin Alba lebt in einer Kleinstadt, durch deren Hochbrücke Alba bereits mehrere Mitschüler*innen verloren hat, während im nahegelegenen Zürich die Jugendlichen auf die Barrikaden gehen.
Mit Warmherzigkeit und viel Humor erzählt Lienhard das Leben von Alba in den 1980er und 1990er Jahren. Charakteristisch prägnant ist dabei die Erzählstimme Albas, der die Leser*innen gespannt lauschen und so der Protagonistin in ihren Tiefschlägen und Höhenflügen folgen.
«Und dann, kurz vor dem Krankenhaus, bin ich trotzdem weggedämmert, ich bin stillgestanden und mein Leben ist an mir vorbeigezogen, es ist mitgegangen mit dem Krankenwagen, aber ich, ich habe mich irgendwo auf dem Weg davongemacht. Getroffen haben wir uns erst wieder in der Notaufnahme, danach.»
Sprachlich geschliffen und gut recherchiert – ein Debüt, das es sich zu lesen lohnt.
Demian Lienhard, geboren 1987 in Baden, hat in Klassischer Archäologie promoviert und arbeitete danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise für seine Texte. «Ich bin die, vor der mich meiner Mutter gewarnt hat» ist sein erster Roman.
Halina Hug
Simon Libsig: Der Velodieb, der unters Auto kam
Ein junger Mann in finanzieller Not, den es nach Baden verschlagen hat, beginnt Velos zu stehlen, nicht zuletzt, weil er sich hoffnungslos verliebt hat. Das „Geschäft“ läuft, denn noch beherrschen die Velos die Stadt, aber das Auto ist kurz davor, sich endgültig durchzusetzen. Der Velodieb wird durch einen seiner Diebstähle in ein Verbrechen hineingezogen, dessen Ausmass er nicht erahnen kann. Bald sucht ein skrupelloser Auftragsmörder die beschauliche Kleinstadt Baden heim und eine fürchterliche Mordserie beginnt die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.
Wird der Serienmörder überführt werden? Kann sich der kaputte Stadtrat mit weisser Weste aus der Affäre stehlen? Wird der Velodieb von seiner Angebeteten erhört?
Simon Libsig gelingt mit dieser schwungvollen, irrwitzigen Kriminalgeschichte ein äusserst unterhaltsames und humorvolles Buch, das bis zuletzt hochspannend bleibt
Der zweite Roman des bekannten Badener Autors und Slam Poeten Simon Libsig, ist das erste Buch, das wir in unserem neu gegründeten Verlag veröffentlichen. Heissestens zu empfehlen!
Laurin Jäggi
CHF 30.- Jetzt im Librium holen, oder bestellen über buch@librium.ch
Jane Gardam, Weit weg von Verona
«Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass ich nicht ganz normal bin, denn im Alter von neun Jahren hatte ich ein einschneidendes Erlebnis.» So beginnt der 1971 veröffentlichte Roman von Jane Gardam. Nach dem grossen Erfolg der hinreissenden Trilogie um ‘Old Filth’ hat der Hanser Verlag nun den Erstling der 90-jährigen Autorin herausgebracht. Und dieser ist ebenso gut, wie das Spätwerk der gereiften Schriftstellerin.
Das „einschneidende Erlebnis“, womit dieser fulminant geschriebene Text beginnt, war die Erkenntnis der neunjährigen Erzählerin Jessica, dass es den Beruf des Schriftstellers gibt und dass sie ihn bereits ausübte. Seit sie schreiben konnte, wurde jedes Stück Papier, das zu Hause verfügbar war, beschrieben. Nun ist sie knapp dreizehn Jahre alt. Es ist Krieg, alles ist rationiert und die Schule wird bei einem Luftangriff getroffen. Jessica notiert und kommentiert was um sie herum geschieht und sie ist eine kluge Beobachterin. Sie stellt fest, dass sie anders ist, mehr Distanz zum Geschehen hat, auch mehr Humor und Sprachwitz – sie ist ganz einfach dabei, eine Schriftstellerin zu werden.
Jeder Satz in diesem Buch zeigt, was das Schreiben von Jane Gardam ausmacht: Lakonie, Autonomie der Figuren, Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben dürfen. Definitiv das beste Leseerlebnis dieses Jahres!
Susanne Jäggi
Hans Fischer, Im Märchenland, Die schönsten Märchen der Brüder Grimm
Drei Generationen von Schweizer Kindern sind mit den beiden bekanntesten Bilderbüchern von Hans Fischer aufgewachsen. Mit dem kleinen, schwarzen und schwachen Kätzchen „Pitschi“, das Gefährliches erlebt und dann glücklich gerettet wird. Und mit Lisette und ihren beiden Katzen Mauli und Ruli. Und dem fast verbrannten Gugelhopf, im Bilderbuch „Der Geburtstag“.
Nun ist im Kinderbuchverlag NordSüd eine Neuauflage des Buches „Im Märchenland, Die schönsten Märchen der Brüder Grimm“ erschienen, illustriert von Hans Fischer. Neun wunderbar und humorvoll illustrierte grimmsche Märchen sind darin enthalten. Unter anderem, „Der gestiefelte Kater“ und „Rum-Pum-Pum. Ein Auszug aus dem Märchenland“.
Hans Fischer (1909-1958), war Grafiker, Zeichner und Bilderbuchillustrator. Seine Illustrationen sind lebendig, spannend und schön zugleich. Dieser Märchenschatz ist ein Muss für alle Eltern und Grosseltern!
Cristina Roca
David Mitchell, Slade House
Gut versteckt und leicht zu übersehen, verbirgt sich das "Slade House" in einer schmalen Gasse. Nur alle 9 Jahre lässt die kleine Eisentür jemanden ein, dem sich das Herrenhaus mit seinem Garten in seiner ganzen Pracht zeigt. Bloss, zurückgekommen von dort ist bis jetzt niemand und die Legenden wuchern wild.
Nathan beispielsweise, ein schüchterner Junge mit grossen Problemen, betritt das Haus 1979 mit seiner Mutter, die dort ein Konzert geben soll. Im Garten lernt er einen Jungen kennen, der ebenso schrullig ist wie er selbst und schon nach wenigen Augenblicken ist eine Freundschaft geboren. Die Bewohner des „Slade House“ zeigen sich immer in unterschiedlicher Gestalt und immer genau so, wie der jeweilige Besucher es gegenwärtig am meisten braucht. Wir begleiten über die Jahre hinweg vier Figuren ins Haus hinein und ahnen jedes Mal ein wenig mehr vom schauerlichen Geheimnis, das dessen Inneres birgt. Jeder Einzelne wächst einem ans Herz und man hofft und bangt, dass nun endlich jemand das Rätsel löst und davonkommt. Und jedes Mal geht es wieder ein wenig zu schnell...
David Mitchell wurde mit «Der Wolkenatlas» und «Die Knochenuhren» berühmt, sein neuer Roman steht diesen dicken Wälzern in nichts nach, im Gegenteil, er bietet ein vielversprechendes Kondensat von Mitchells fantastischem Universum.
Doris Widmer
Carol Rifka Brunt, Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
Carol Rifka Brunts wunderbarer Roman spielt im Jahr 1987, in dem AIDS im Rampenlicht der Medien steht und von der breiten Masse gefürchtet wird. Die vierzehnjährige June verliert ihren Patenonkel Finn, der ein begnadeter Künstler und gleichzeitig Junes heimliche erste grosse Liebe ist, an ebendiese Krankheit. June muss fortan lernen, mit dem enormen Verlust umzugehen und nebenbei ihr Einzelgänger-Dasein als Teenager und ihre verachtungsvolle grosse Schwester aushalten. Als plötzlich Finns Freund Kontakt zu ihr aufnimmt und sich mit ihr anfreunden will, verändert dies Junes Leben und das ihrer ganzen Familie. Der Roman verknüpft die Themen Freundschaft, Trauerverarbeitung, grosse Liebe und Geschwisterbande zu einer sehr lesenswerten Entwicklungsgeschichte. Dass die Geschichte aus Sicht eines anfangs noch unreifen Teenagers erzählt wird, stört dabei keineswegs. Im Laufe der Lektüre wachsen uns Lesern die Romanfiguren so sehr ans Herz, dass wir beim Lesen laut mit ihnen lachen und genauso herzhaft mit ihnen weinen können. Wer die bittersüsse Leichtigkeit von Mariana Lekys «Was man von hier aus sehen kann» mochte, dem wird auch Carol Rifka Brunts Erstling gefallen.
Debby Stoffel
Richard Fariña, Been Down So Long It Looks Like Up To Me
Lange hat es gedauert, bis der 1966 erschienene Kultroman „Been Down So Long It Looks Like Up To Me“ erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Es sollte der einzige Roman des jung verstorbenen Richard Fariña bleiben. Der Autor trat nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Musiker in Erscheinung. Er nahm mit seiner Frau Mimi, der jüngeren Schwester von Joan Baez, zwei Alben auf und war Teil der New Yorker Folk-Szene, der auch der junge Bob Dylan angehörte. Nur zwei Tage nach Erscheinen des Romans starb Fariña durch einen Motorradunfall. Er war ein vielversprechender junger Künstler, dessen früher Tod wohl zu seiner Legendenbildung beigetragen hat.
Gnossos Pappadopoulis der erzählende Antiheld des Buches kehrt nach einer sagenumrankten Reise zurück an die Universität und stolpert durch diesen irren Campus-Roman voller schräger Szenen, Revolutionen und Drogen.
In der amerikanischen Literaturgeschichte nimmt dieser Roman eine besondere Stellung ein. Er ist zwar stark beeinflusst von der Beat Generation, ist aber wilder und skurriler. Und er nimmt vieles vorweg, was die Hippies einige Jahre später charakterisierte.
Die Lektüre dieses rasanten, wirren, abgründigen, und bizarren Romans ist ein grosses Vergnügen!
Laurin Jäggi
Leigh Bardugo, Das Lied der Krähen
In der Jugendabteilung von Buchhandlungen wimmelt es spätestens seit dem Hype um «Harry Potter» und später «Die Tribute von Panem» von Fantasy-Büchern. Aus diesem Meer herauszustechen, wird beständig schwieriger. Mit dem Auftakt zu ihrer Dilogie hat Leigh Bardugo dies mit scheinbarer Leichtigkeit geschafft. Ab der ersten Seite von „Das Lied der Krähen“ taucht man in ihr Universum ein. Die Komplexität hinter der erschaffenen Welt wird erst mit der Zeit ersichtlich, denn anstatt die Struktur zu erklären, führt uns Bardugo durch sie hindurch, Hand in Hand mit ihren Figuren.
Es ist die Geschichte des jungen, mysteriösen Kaz Brekker, der immer Handschuhe trägt und nur mit Hilfe seines Gehstocks vorwärtskommt. Aus dem Nichts zur rechten Hand eines Gangchefs geworden, erhält er einen Auftrag, der ihn in fremdes Gebiet und zwischen sich bekriegende Länder führen wird. Die Crew, die Kaz zusammenstellt, hat die unterschiedlichsten Motive. Durch die ständigen Perspektivenwechsel erlaubt uns Bardugo, jeden von ihnen kennenzulernen, so dass man nie weiss, für wen man eigentlich hoffen will.
Ein Jugendbuch mit fein gezeichneten Figuren und überraschend politischem Gedankengut im Kern, das allen zu empfehlen ist, die sich gerne in Geschichten verlieren.
Lea Kalt
Sascha Garzetti, Mund und Amselfloh
Die Texte Garzettis umfassen ein weites Spektrum: Privates, Naturhaftes, Eindrücke aus dem Alltag liefern den Stoff für seine Gedichte. Mit präziser Sprache und einem genauen Blick lässt der Autor seine Bilder sprechen, geht der Bedeutung der Wörter nach und ist dabei immer auch dem Unbekannten, Unaussprechlichen auf der Spur. Geprägt vom Rhythmus und der Musikalität der Sprache liest sich dabei jeder Vers wie das Herantasten an das uns eigentlich Bekannte, ein Annähern an die Möglichkeiten des alltäglichen Lebens.
Sascha Garzetti, 1986 in Zürich geboren, lebt in Baden. Studium der Germanistik, Geschichte und Nordistik. Er arbeitet heute als Deutschlehrer an der Kantonsschule Baden und schreibt Gedichte und Prosa. Sein vierter und aktuellster Gedichtband «Mund und Amselfloh» erschien im Herbst 2018.
Halina Hug
Thomas Gröbly, Inmitten - Gedichte 2008 - 2018
«Inmitten» ist eine Sammlung von fünfundachtzig Gedichten, entstanden in den letzten zehn Jahren. Es sind offene Gedichte, die LeserInnen werden angesprochen und mitgetragen. Es gibt nichts Verschlossenes, das uns nicht einlässt. Thomas Gröbly schreibt aus Liebe, Wut, Unverständnis, Zweifel. Er stellt Fragen und stellt Dinge in Frage. Seine Themen sind das Leben, das Sterben, die Liebe und die Freundschaft. Es ist wie bei allen guten Gedichten: Wer sich Zeit nimmt und das Geschriebene wirken lässt, wird reich belohnt. Das gilt auch für diese Sammlung.
Thomas Gröbly ist 1958 geboren und lebt in Baden. Er ist gelernter Bauer, Theologe und Dozent für Ethik und Nachhaltigkeit. Seit 2006 ist er Inhaber des Ethik-Labors in Baden. Er ist Autor verschiedener Bücher, zuletzt sind von ihm erschienen: «Nach Hause kommen. Nachbarschaften als Commons» 2016 und «Zwischen Fairtraide und Profit. Wer sät, der erntet – oder doch nicht», (zusammen mit Fausta Borsani) 2016.
Susanne Jäggi
Dana Grigorcea, Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen
Nach dem preisgekrönten Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit veröffentlicht die schweizerisch-rumänische Schriftstellerin Dana Grigorcea diese schmale Novelle: ein leichtfüßiges, unbeschwertes Buch über die Tänzerin Anna, die am Opernhaus in Zürich Primaballerina ist. Zu leichtfüßig beinahe schien mir dieser Text beim ersten Lesen. Da ich die zwei bisherigen Romane von Grigorcea sehr schätze, begann ich nach der Lektüre gleich nochmals von vorn. Diesmal las ich langsam und mit den Fragen, was die Autorin erzählen möchte und wie sie es schafft, dieses schwebende Gefühl bei der Lektüre auszulösen. Natürlich habe ich auf die zweite Frage keine Antwort gefunden. Aber mich diesmal von der dichten Atmosphäre mittragen lassen: Zürich am See, beginnend im Frühling, endend am Ende dieses endlos scheinenden Sommers. Die Tänzerin trifft in einem Café den Kurden Gürkan. Die Welten der sich schnell Verliebenden sind beinahe entgegengesetzt. Und wie in Tschechows fast gleichnamiger Erzählung nehmen wir teil am Anfang und Ende einer schier unmöglichen Liebesgeschichte. Lassen Sie sich überraschen!
Susanne Jäggi
Dominic Oppliger, acht schtumpfo züri empfernt
Die violetten Hosen ziehen sich in der Mundart-Novelle «acht schtumpfo züri empfernt» von Dominic Oppliger «winen rote fade» durch die Geschichte. Der Protagonist, ein junger Mann, erzählt, wie es ihm seit der Trennung von seiner Freundin ergangen ist, wie die Lieben zu anderen Frauen schon in ihrem Anfang scheiterten, wie der Sans-Papiers Mohammed, der bei ihm in der WG Unterschlupf gefunden hat, ausgeschafft wird. Im Vergleich zu diesem sollte es dem Ich-Erzähler eigentlich ganz gut gehen, trotzdem ist sein Erleben von melancholischer Traurigkeit geprägt. Die vielen Geschichten, die der Redefluss hervorbringt, sind ebenso voll grotesker Komik und tragischer Peinlichkeiten.
Dominic Oppliger, der in Widen auf dem Mutschellen aufgewachsen ist und in Zürich lebt, schreibt ein aargauisch gefärbtes Zürichdeutsch, das er wie ein Gedicht in Strophen anordnet. Die Notation ist ganz nah an der mündlichen Sprache und wirkt trotz der ungewohnten Schreibweise sehr natürlich und realistisch. Der Text hat auch etwas Songhaftes, denn der Autor, der bisher als Musiker (u. a. Doomenfels) in Erscheinung trat, schreibt in äusserst melodiöser und rhythmischer Sprache. Dominic Oppliger gelingt mit seinem Erstling ein Wurf, grosse Leseempfehlung!
Laurin Jäggi
Muriel Spark, Memento Mori
»Bedenke, dass du sterben musst«. Diesen Satz bekommen sie alle zu hören. Die Worte des unbekannten Telefonanrufers setzen dem Kreis von alternden Damen und Herren aus der englischen Oberschicht gehörig zu. Um dem Spuk auf den Grund zu gehen, wird ein Detektiv angeheuert. Doch bald erhält auch dieser, ebenfalls weit über siebzig, die seltsamen Anrufe, und die Ermittlungen verlaufen im Sand …
Als ob sie sich nicht schon genug mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzten! Die einen dokumentieren akribisch jede Veränderung im Bekanntenkreis und füllen damit etliche Schubladen; andere besuchen leidenschaftlich gerne Beerdigungen und freuen sich ob der eigenen vermeintlichen Unsterblichkeit, wieder andere ignorieren den Tod komplett.
Die Greise versuchen, das Leben mit all seinen Herausforderungen zu meistern, so gut es eben geht. Ihnen beim diesem »Totentanz« zuzusehen, ist ein makaberwitziges Lesevergnügen.
Durch die neue Übersetzung ist das in den fünfziger Jahren erstmals erschienene Buch frisch und aktuell geworden – das Motiv an sich, der Tod, ist ja ohnehin zeitlos.
Doris Widmer
Dashka Slater (Text), Terry & Eric Fan (Bilder), Ein seltsames Schiff
Die Reise geht vom Land der Füchse durch die Smaragdlagune, an der Insel der köstlichen Sträucher vorbei, durch das Perlenmeer auf die Süßbauminsel. So der Plan auf dem Vorsatz des Bilderbuches Ein seltsames Schiff. Als das Schiff mit dem Geweih im Hafen anlegt, macht sich Marco, der Fuchs, Gedanken über die Welt. Er hat so viele Fragen, z. B. »Warum sprechen Bäume nicht?«. Die anderen Füchse interessieren sich jedoch nur für Hühnersuppe, und so macht sich Marco auf zum Hafen, um das Schiff mit dem Geweih zu inspizieren. Zwei Hirsche und eine Hirschkuh begrüßen ihn. Sie haben sich verirrt und hoffen nun an Land eine seetüchtige Crew zu finden. Der Fuchs und eine Taubenschar (Abenteurer) gehen an Bord. Die Reise beginnt mit einem Sturm, dann geht der Proviant aus, aber der Fuchs bewährt sich als findiger Koch. Die nächste Gefahr lauert hinter einer Felseninsel: Piraten! Aber mit dem Geweih des Schiffes werden sie erfolgreich vertrieben. Bald finden sie eine paradiesische Insel zum Verweilen. Marco, der Fuchs, sucht Füchse, um mit ihnen zu philosophieren – er findet keine. Aber er merkt, dass die Mitglieder der Schiffscrew, mit denen er viele Abenteuer erlebt hat, seine Freunde geworden sind. Die Reise geht weiter. Schöne und eindrückliche Bilder machen dieses Bilderbuch zum Genuß.
Cristina Roca
Arno Camenisch, Der letzte Schnee
Der neue Roman von Arno Camenisch spielt wie seine erfolgreichen Vorgänger im Bündnerland. Diesmal beschränkt sich der Schauplatz auf die Hütte eines Skilifts. Die beiden alternden Liftwarte Paul und Georg sind die Hauptfiguren, deren Dialog wir verfolgen. Während die beiden warten, auf den Schnee, die Skifahrer, den Feierabend, vertreiben sich die beiden die Zeit. Sie erzählen vom Verschwinden der Dinge in ihrem Dorf. Die Poststelle, der Dorfladen, das Restaurant, die Jungen, alle scheinen das Tal zu verlassen. Dabei sind die beiden nicht verbittert, sondern kommentieren den Lauf der Dinge mit stoischer Gelassenheit und Witz, während sie gewissenhaft ihre Arbeit verrichten. Paul und Georg als bündnerische Wiedergänger der Figuren in Becketts absurdem Warten auf Godot.
Die große, weite Welt spiegelt sich auch in ihrem Tal, die Politik, die gesellschaftlichen Veränderungen, der Klimawandel. Camenisch erzählt von der ländlichen Schweiz, ohne falsche Idylle und ohne sich über deren Bewohner lustig zu machen. Auch in diesem Buch findet der Autor wieder seinen ganz eigenen Sound. Die Sprache, eine Mischung aus Hochdeutsch, Bündner Mundart und rätoromanischen Wörtern, ist fein komponiert und wohl einzigartig in der deutschsprachigen Literatur.
Laurin Jäggi
Hannes Köhler, Ein mögliches Leben
Hannes Köhlers Roman erzählt einfühlsam und mit einer sehr schönen, metaphernreichen Sprache von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf vier Generationen einer Familie. Über zwei Erzählstränge entfaltet der Autor die Lebensgeschichte des ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen Franz, der mit seinem Enkel Martin nach Amerika reist, um ein zweites Mal die wichtigsten Stationen seines von Krieg und Gefangenschaft gezeichneten Lebens aufzusuchen. Dabei steht nicht die Beziehung zwischen Enkel und Großvater im Mittelpunkt, sondern unter anderem Fragen nach dem Grund für die Bitterkeit und Distanziertheit zwischen Franz und seiner Tochter, oder weshalb Franz nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehrte. Ebenso zentral ist Franz’ Freundschaft zum Deutsch-Amerikaner Paul, der zu Kriegsbeginn aus den Staaten nach Deutschland reist, um für die Werte des Führers zu kämpfen. Pauls Weltbild ändert sich grundlegend mit seinem Einsatz an der Front in Russland. In amerikanischer Gefangenschaft wird Pauls neue, kritische Sicht auf den Krieg allerdings nicht von allen Mitgefangenen gern gesehen. Ein sehr spannender und berührender Roman, bei dessen Lektüre man die fundierte Recherche erahnt.
Debora Stoffel
Barbara Schibli, Flechten
Die Flechtenforscherin Anna und die Fotografin Leta sind eineiige Zwillinge. Während die Erzählerin Anna durch ihr Mikroskop die Klassifizierung von Flechten vornimmt, fotografiert Leta seit ihrer Kindheit obsessiv ihre Schwester. Anna empfand das schon immer als übergriffig. Nun ist sie jedoch tief erschüttert, als Leta bei einer Ausstellung ausschliesslich Bilder von Anna zeigt und dabei das einzige Unterscheidungsmerkmal, eine kleine Narbe an der Wange, wegretuschiert hat. Die beiden Schwestern ringen mit der Suche nach ihrer Identität. Welche Verletzungen in der Geschichte der Familie dahinterstehen, eröffnet sich erst allmählich und nur andeutungsweise bei der Lektüre. Ein schönes Bild für diese Geschichte sind die titelgebenden Flechten, eine Verbindung aus Pilz und Alge. Sie werden ebenso als Symbiose, sowie als „kontrollierter Parasitismus“ bezeichnet. Dieser Widerspruch zwischen Nähe und Distanz liegt auch in der Arbeit der beiden Schwestern. Während Anna versucht die äusserst feinen Unterschiede zwischen den Flechtengattungen zu differenzieren, macht Leta eigentlich dasselbe mit ihrer Kamera. Einen Hoffnungsschimmer in ihrer Suche nach einem „Verhältnis zur Welt“ zeigt sich schliesslich für Anna just in den speziellen Eigenschaften der Beziehung zwischen Pilz und Alge.
Barbara Schibli, die im Aargau aufgewachsen ist und in Zürich lebt, legt einen sehr lesenswerten Debütroman vor, der sprachlich und motivisch fein gearbeitet ist.
Laurin Jäggi
Liv Strömquist, Der Ursprung der Welt
»Männer, die sich zu sehr dafür interessieren, was als ›das weibliche Geschlechtsorgan‹ bezeichnet wird« nennt sich das erste Unterkapitel von Liv Strömquists fulminant feministischer Graphic Novel. Dabei begleitet sie selbst uns als erzählende Comicfigur auf eine Reise durch die Kulturgeschichte der Vulva. Gekonnt spielt sie mit dem Stigma, das auch heute zu diesem Thema noch vorherrscht, und zeigt auf, woher es kommt. Sie hüpft ungezähmt durch die Jahrhunderte und besucht Dornröschen, Freud, griechische Göttinnen und Hebammen aus dem Mittelalter auf der Suche nach dem Grund für unsere heutige unentspannte Beziehung zum weiblichen Geschlechtsorgan. Der Ursprung der Welt ist eines dieser Bücher, die es schaffen auszusprechen, wofür man selbst keine Worte findet, um auch noch dafür eine Erklärung zu liefern. Es hält der Gesellschaft und einem selbst einen Spiegel vor, ohne dabei mit dem Zeigefinger zu wackeln (umso mehr dafür mit dem Mittelfinger). Die Mischung aus humorvollen Comic-Dialogen und historisch fundierten Erklärungen macht es zu einem genauso unterhaltsamen wie lehrreichen Lesevergnügen. Ein Muss für Frauen, um sich selbst zu verstehen, und erst recht für Männer, die behaupten, man könne sie nicht verstehen.
Lea Kalt
Hansjörg Schneider, Kind der Aare
Hansjörg Schneider feierte im März 2018 seinen 80. Geburtstag und schenkt sich die Autobiografie «Kind der Aare». Seine Kindheit und Jugend in Zofingen nimmt dabei einen wichtigen Platz ein. Schneider schildert das autoritäre und enge Klima der Nachkriegszeit in seiner kleinstädtischen Heimat. Er wird geschlagen von Lehrern und seinem Vater, dem er nicht verzeihen will. Hinzu kommt der frühe Tod der Mutter, welcher die Familie, in der sowieso schon nicht viel gesprochen wurde, zum Verstummen bringt. Erst nach einem Zusammenbruch als junger Erwachsener beginnt Schneider mit einer Traumtherapie, durch die er zurückfindet zur Sprache und sich so auch der Weg zeigt zu seinem Leben als Schriftsteller. Man liest über seine Anfänge am Basler Theater und seine Erfolge wie das «Sennentuntschi» oder die Kriminalromane um Komissär Hunkeler. Aber auch Niederlagen finden Platz in diesem Buch, das weder eitel noch verbittert daherkommt. Schneider ist sich der Ambivalenz des autobiografischen Schreibens bewusst und reflektiert diese auch. Der Kanton Aargau ist für den Autor zentral in seinem Erinnern und seiner Prägung. Der Aargau als Seelenlandschaft. Er sieht sich als «Produkt der Aargauer Geschichte» und seiner Landschaft und Gewässern.
Laurin Jäggi
Shawn Vestal, Loretta
Aufwachsen in den siebziger Jahren! Alle träumen vom prallen Leben, von Musik und freier Liebe. Auch Loretta. Aber nur nachts, wenn sie aus dem Fenster steigt und mit ihrem Freund quer durchs einsame Idaho fährt. Denn Lorettas Eltern sind Mormonen und leben nur für den Glauben und ihre Gemeinde. Als die nächtlichen Ausflüge auffliegen, wird der Teenager kurzerhand verheiratet, mit einem Lebensmittelhändler, der bereits eine Familie hat, eine Frau und etliche Kinder.
Loretta muss sich als Zweitfrau arrangieren und wird in den harten Arbeitsalltag eingebunden. Doch noch immer träumt sie von der Freiheit und plant ihre Flucht. Allerdings nicht mit ihrem Freund, der sich inkognito bei ihrem Ehemann hat anstellen lassen, sondern mit Jason. Der gleichaltrige Junge kommt zwar ebenfalls aus einer Mormonenfamilie, ist jedoch so ganz anders als alle anderen. Die Flucht gelingt, doch was kommt danach?
Der Roman vermittelt einen hochinteressanten Einblick in eine verschworene Gemeinschaft, von einem der es wissen muss: Shawn Vestal ist selbst in einer Mormonengemeinde aufgewachsen und hat sich erst als Erwachsener davon losgesagt.
Doris Widmer
Lawrence Osborne, Denen man vergibt
Mitten in der marokkanischen Wüste veranstaltet das homosexuelle Paar Richard und Dally eine extravagante dreitägige Party. Das britische Ehepaar Jo und David Henniger folgen der Einladung. Die Reise in ein vermeintlich vergnügliches Wochenende schlägt um in einen Alptraum als Richard betrunken und mit Jo streitend einen Fossilienverkäufer überfährt. Mit der Leiche des jungen Mannes trifft das Ehepaar im luxuriösen Feriendomizil ein. Just als die Gastgeber das Problem mit der marokkanischen Polizei gelöst zu haben meinen, trifft der Vater des Toten ein, ein Berber, der von David verlangt, ihn in sein Dorf zur Beerdigung seines Sohnes zu Begleiten. Dies erscheint David als einziger Ausweg aus seiner Schuld, denn Geld will der Mann nicht. Während David mit den Berbern und dem Leichnam in die Wüste fährt, muss Jo auf der rauschenden Party bleiben.
In wunderbar filmisch erzählten Szenen schildert der britische Reiseschriftsteller Lawrence Osborne diese spannende Geschichte. Die Gegensätze der westlichen Touristen und der Einheimischen werden kenntnisreich und nicht wertend aufgezeigt. Die Psychologisch raffiniert gezeichneten Figuren und Konstellationen werfen moralische Fragen auf. Auch die Perspektive der marokkanischen Hausangestellten und die Lebensgeschichte des jungen Berbers zeichnen ein differenziertes, zutiefst menschliches Bild.
Laurin Jäggi
Carlo Bernasconi: Helvetia Vegetaria, Vegetarische Rezepte aus der Schweiz
Rösti, Fondue, Älplermagronen – was vereint diese klassisch schweizerischen Gerichte? Sie sind vegetarisch, wie viele andere traditionelle Rezepte.
Jahrhundertelang wurde gekocht, was Gemüsegarten, Feld und Wald hergaben. Dazu gab es reichlich Milchprodukte: Käse, Milch, Butter und Rahm. 150 der beliebtesten Klassiker versammelt dieses sorgfältig geschriebene und wunderschön gestaltete Kochbuch. In sieben Regionen eingeteilt, erzählen die Rezepte und interessanten Begleittexte viel über die kulinarische Tradition der Schweiz.
Laut dem AT Verlag liegt hiermit das erste Kochbuch zur vegetarischen Schweizer Küche vor. Gesammelt, gekocht und aufgeschrieben wurden die Rezepte von Carlo Bernasconi, dem Journalisten, Literatur- und Theaterkritiker, der in Zürich das Restaurant Cucina e Libri führte. Er ist im Oktober 2016 gestorben. In den letzten Jahren hat sich Bernasconi vermehrt der vegetarischen Küche gewidmet und mit „La Cucina verde“ einen Klassiker der italienischen Gemüseküche geschrieben. Dank einem aktiven und kompetenten Freundeskreis kam dieses Werk nun zu Stande. Ich wünsche dem Buch, das sich aus der Masse der Trendkochbücher wohltuend hervorhebt, dass es zu einem Standardwerk wird.
Susanne Jäggi
Annette Herzog, Ingrid & Dieter Schubert: Frühling mit Freund, Vorlesegeschichten
Freundschaftsgeschichten. Mumpf, der einen Winterschlaf hält und die Schneeeule, die auf ihren Freund wartet sind die Hauptfiguren der Erzählungen in diesem sehr schön illustrierten Vorlesebuch. Die erste Geschichte beginnt Ende
Winter. Sie Schneeeule freut sich, dass der Mumpf erwacht ist und ihr nun den Frühling zeigt. Der ist aber noch weit weg. Tief liegt der Schnee. Eule und Mumpf versuchen den Schnee zu verbrennen. Sie spielen mit dem Schnee, Der Frühling hält sich zurück. Doch langsam aber sicher kommt der Frühling zurück und die beiden Freunde erleben eine spannende Zeit. Sie organisieren ein Frühlingsfest »Frühlingsfest bei Mumpf und Eule (Freunde). Morgen.« steht auf der Einladung. Leider kommen die Gäste einen Tag zu früh Die Dachse, Hasen, fünf Eichhörnchen und viele andere Tiere des Waldes – und es wird ein tolles Fest mit Tee und Tanz und spannenden Gesprächen.
Die Bilder von Ingrid und Dieter Schubert sind einfach wunderschön und passen prima zu den Geschichten von Mumpf und Schneeeule.
Cristina Roca
Fiston Mwanza Mujila, Tram 83
Der Nachtklub »Tram 83« in einer heruntergekommenen Minenstadt in Afrika ist der hauptsächliche Handlungsort dieses Romans. Der 1981 in der Demokratischen Republik Kongo geborene Fiston Mwanza Mujila beschreibt einen Klub, eine Stadt, ein Land, das geprägt durch Korruption und Gewalt dem Abgrund entlangtänzelt. Im Tram 83 treffen sich die Minenarbeiter, die westlichen Geschäftsleute, die Prostituierten und auch die beiden Hauptfiguren, Lucien, ein zaudernder Schriftsteller, und Requiem ein rücksichtsloser Gauner. Die Handlung des Romans ist weniger wichtig, als die Stimmung des Settings und der Sprache. Wie der Autor diese Gesellschaft beschreibt, den moralischen Zerfall, die Gewalt ist äusserst originell. Er agiert nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern zeigt in diesem verderbten Mikrokosmos die Menschen, die mit diesen Problemen konfrontiert sind, zeigt die Schönheit inmitten des Kaputten. Der Text liest sich wie ein frei swingendes Gedicht, wie ein Jazz-Song und ist stark rhythmisiert. So tauchen zum Beispiel immer wieder leitmotivische Wiederholungen auf, wie zum Beispiel die immergleichen Anmachen der Prostituierten.
Ein sprachlich und musikalisch virtuoser Roman, brutal und schön.
Laurin Jäggi
Marilynne Robinson, Lila
Obwohl die 1943 geborene Amerikanerin seit 1980 veröffentlicht, wurde sie im deutschsprachigen Raum spät entdeckt. Für viele erst durch die Aussage von Barack Obama, der Robinson seine Lieblingsautorin nennt. Meine Entdeckung folgt noch später, ich las sie vor einigen Wochen während einem Aufenthalt in den USA. Ich las den Roman in einem Zug, am Ende angekommen, begann ich gleich nochmals, diesmal langsamer und genoss diese präzise, ruhige Sprache, die wunderbaren Figuren und alles Ungesagte, das sie uns Lesern zu deuten überlässt. Lila ist ein Findelkind, sie wird von einer nicht sehr viel älteren Wanderarbeiterin gefunden und aufgezogen. Nach einer unsteten Jugend steht sie nun alleine da. Sie findet Arbeit in einem Bordell, später in einem Hotel als Zimmermädchen. Nach vielen Jahren bricht sie nochmals auf und trifft in der Kleinstadt Gilead im Mittleren Westen auf John, einen abgeklärten und humorvollen Geistlichen.
Wie diese zwei ganz besonderen Menschen sich aufeinander einlassen und ihre Liebe zueinander leben ist eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich gelesen habe.
Susanne Jäggi
Jess Kidd, Der Freund der Toten
Der sympathische Gelegenheitsdieb und Hippie Mahony hatte bis jetzt geglaubt, seine Mutter hätte ihn aus purem Egoismus in dem Dubliner Waisenhaus abgegeben, in dem er aufgewachsen war. Sechsundzwanzig Jahre später jedoch wirft ein anonymer Brief ein ganz anderes Licht auf die Vergangenheit. Was geschah damals tatsächlich mit der jungen Frau und ihrem Baby? Auf der Suche nach Antworten reist Mahony in sein Heimatstädtchen Mulderrig.
Dass er seiner Mutter sehr ähnlich sieht, merkt er von Beginn an, das Misstrauen lässt sich mit den Händen greifen. Doch die alte Mrs Cauley, eine ehemalige Schauspielerin und ebenfalls eine Aussenseiterin in Mulderrig ist fest davon überzeugt, dass Mahonys Mutter umgebracht wurde. Gemeinsam hecken die Beiden einen Plan aus, um den Mörder ausfindig zu machen. Dass sie bald Hilfe von ungewöhnlicher Seite, nämlich von den Toten erhalten, irritiert Mahony nicht besonders…
Und es darf auch den Leser nicht irritieren. Denn wer sich unvoreingenommen auf diesen erstaunlichen Erstling einlässt, der in so gar keine Schublade passt, wird mit grossem Lesevergnügen belohnt.
Doris Widmer
Sarah Bakewell, Wie soll ich leben? Oder das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig antworten
Die titelgebende Frage »Wie soll ich leben?«, war die zentrale Frage in Montaignes Philosophie. Anhand dieser Frage und mit dem Versuch von zwanzig Antworten, schreibt Sarah Bakewell die Biographie des grossen Autors der »Essays«. Michel de Montaigne (1533 – 1592) war nicht nur Philosoph, sondern auch Adliger, Weingutbesitzer, Politiker und Reisender. Das Buch erzählt nicht nur sein überaus interessantes Leben, es zeigt auch die Entwicklung seines Denkens, die historischen Umstände seiner Zeit und die Wirkung seines Werkes. Seine Philosophie, die auf den antiken Stoikern und Epikureern gründet, war in höchstem Masse modern, da sie das Subjekt in den Mittelpunkt stellt. Seine Lehre von der Skepsis und dem Massvollen ist bemerkenswert, angesichts dem zeitgenössischen religiösen Fanatismus der christlichen Religionskriege. Die grosse Nachwirkung dieses Werkes zeigt die aussergewöhnliche Stellung des lebensklugen Meisterpsychologen in der Geistesgeschichte.
Sara Bakewells intelligentes, unterhaltsames und profundes Buch ist eine wundervolle Einführung und Verführung zu Montaignes Essays.
Laurin Jäggi
Alexander Betts, Paul Collier: Gestrandet, Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet - und was jetzt zu tun ist
Es wäre nicht wahr, wenn ich schreiben würde, dieses Buch hätte ich gerne gelesen. Die Lektüre war anstrengend und ich wollte sie ständig beenden. Aber wie so oft bei Anstrengungen kommt die Belohnung erst am Schluss: Ich bin froh, den sehr aktuellen und aufklärenden Text der Oxforder Migrationsforscher gelesen zu haben. Ausgangspunkt des Buches ist die europäische Reaktion auf den Bürgerkrieg in Syrien. Die Autoren analysieren die gegenwärtige internationale Flüchtlingspolitik und kommen zu vernichtenden Urteilen. Diese stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und wurde seither kaum reformiert. Dass heute das Thema Flucht ganz oben auf der weltpolitischen Tagesordnung steht, sehen Betts und Collier jedoch als Chance für eine Reform.
Heute befinden sich 65 Millionen Menschen auf der Flucht, das sind ein Prozent der Weltbevölkerung und der höchste je festgestellte Wert. Weniger als 10 Prozent flüchten nach Europa, alle anderen suchen zuerst Schutz in einem anderen Teil ihres Landes, und fliehen später in ein benachbartes Land, mit dem sie Sprache und Kultur teilen. Diese Nachbarländer mit Geld und Ideen kräftig zu unterstützen, ist eine der Forderungen der Autoren: Die Integration ist einfacher, die Versorgung günstiger und zudem kehren mehr Flüchtlinge nach der Krise in ihr Land zurück, wo sie für den Wiederaufbau dringend gebraucht werden.
Im Kapitel »Umdenken« werden wir Leser gefordert. Wie stehen wir zum Thema, was sind unsere eigenen Ideen, Gefühle, Gedanken. Ein forderndes aber auch sehr gutes Kapitel. Im letzten Teil folgen die Vorschläge der Autoren, was jetzt – ziemlich schnell – politisch getan werden müsste. Ich kann nur hoffen, dass viele Menschen – auch viele mit politischen Ämtern – diese sehr durchdachten und klugen Vorschläge umsetzen.
Leider enthält der Text viele Wiederholungen. Dass er nicht gekürzt wurde, ist wohl dem hohen Druck zur Publikation geschuldet. Trotzdem: Bitte lesen!
Susanne Jäggi
Daniel Kehlmann, Du hättest gehen sollen
Ein Ehepaar mit Kleinkind mietet ein abgelegenes Ferienhaus in den Alpen. Der Mann hofft, endlich vorwärtszukommen mit dem Drehbuch für die Fortsetzung eines erfolgreichen Films, der Produzent setzt ihn unter Druck. Wir lesen, was er in sein Notizbuch schreibt, wobei er immer wieder abschweift und Beobachtungen und Gedanken notiert. Merkwürdigkeiten und leichte Verschiebungen der Wirklichkeit lassen den Protagonisten an seiner Wahrnehmung zweifeln. Denn das Unheimliche im freudschen Sinn schleicht sich allmählich ein, und man fragt sich ob der Mann verrückt wird oder ob es in diesem Haus spukt. Die unheimlichen Ereignisse und die Irritationen steigern sich, zu einer dunklen Angst und reißen ihn in einen Strudel aus Panik und Ohnmacht.
In diesem schmalen Buch zeigt Daniel Kehlmann sein ganzes Können. Sprachlich brillant schreibt er eine abgründige und meisterhaft komponierte Schauergeschichte. Gänsehaut garantiert!
Laurin Jäggi
Heinrich Steinfest, Das Leben und Sterben der Flugzeuge
Es ist doch erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt: Es gibt nicht nur die eine, unsere Welt, sondern gleich zwei davon. Hier sind wir die, die wir schon immer zu sein glaubten, drüben hingegen, tja, dort ist es etwas komplizierter: Vielleicht unterscheidet sich unser anderes Ich nur durch eine Kleinigkeit wie etwa andere Schuhe, vielleicht sind wir aber auch ein Spatz. So wie Kommissar Blind, der jedes Mal, wenn er sich schlafen legt, als Sperling namens Quimp im Pariser Gare Monparnasse erwacht.
In der Spatzenwelt liegt einiges im Argen, und Quimp, der junge, etwas vorlaute Jungspatz, wird auf geheime Mission geschickt: Die Sperks, die Kriegerkaste unter den Spatzen, sind bedroht, und Quimp soll sie warnen. Ein wieder aufgerollter Kriminalfall, mit dem Kommissar Blind in der Menschenwelt betraut wird, hat mehr damit zu tun, als dieser je gedacht hätte.
Immer wieder hüpft der Leser spatzengleich von einer Welt in die andere und wird Zeuge von abenteuerlichen Verfolgungsjagden und sonderbaren Zufällen. Aber wie gesagt, sobald wir uns daran gewöhnt haben, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, werden wir mit unnachahmlichem Lesevergnügen belohnt.
Doris Widmer
David Garnett, Dame zu Fuchs & Mann im Zoo
David Garnett war mir nicht bekannt, als ich das – wie immer beim Dörlemann Verlag sehr schön gestaltete – Bändchen Dame zu Fuchs las. Ich war vom ersten Satz an von der Sprache und der Geschichte angetan und entsprechend neugierig auf den Verfasser.
David Garnett (1892–1981) war nicht nur Schriftsteller, Verleger und Buchkritiker, sondern auch Mitglied der Bloomsbury Group, einer Gruppe von englischen Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern, die von 1905 bis zum Zweiten Weltkrieg bestand. Das Charlestone Farmhouse, in dem die Künstlerin Vanessa Bell (Virginia Woolf’s Schwester) mit ihrem Geliebten Duncan Grant und dessen Geliebtem David Garnett in einer Dreiecksbeziehung lebte, wurde zu einem beliebten Treffpunkt der »Bloomsberries«. Dieses Haus in Sussex ist heute ein Museum, Haus und Garten sind hinreißend und einen Besuch wert!
Was beschäftigte den oft als Dandy beschriebenen Schriftsteller? Ein Thema, das bei beiden nun vorliegenden Übersetzungen sichtbar wird: die Verwandlung der Menschen in Tiere oder, weiter gefasst, die Nähe von Menschen zu den Tieren. Zehn Jahre nach Kafkas Die Verwandlung schrieb er ein englisches Pendant dazu: In Dame zu Fuchs verwandelt sich eine junge Frau in einen Fuchs. Ein junges, frisch verliebtes Ehepaar unternimmt einen Spaziergang. In der Ferne sind Signalhörner zu hören, Jagdhunde bellen. Im Gegensatz zu ihrem Mann Richard findet Silvia Tebrick – geborene Fox! – keinen Gefallen an der Jagd. Mr Tebrick möchte gerne einen Blick auf die Jagdgesellschaft werfen und eilt zum Waldrand, als er hinter sich einen Schrei hört: »Wo eben seine Frau gewesen war, stand, mit leuchtend rotem Fell, ein kleiner Fuchs.« Weder Autor noch Ehemann stellen diese Tatsache in Frage, und uns Lesern bleibt, die Geschehnisse gespannt zu verfolgen.
Diesmal gewappnet gegen Irritationen, las ich das soeben erschienene Buch Mann im Zoo. Auch von dieser zweiten Geschichte wurde ich überrascht. Mit derselben Lakonie wird hier erzählt, wie der junge John Cromartie und seine Freundin Josephine Lackett den zoologischen Garten in London besuchen. Cromartie ist verliebt und möchte möglichst schnell heiraten, Josephine hat Bedenken vor diesem Schritt. Im Streit wirft sie ihm an den Kopf: »Du bist Tarzan bei den Affen, du gehörst in den Zoo.« Der schwer gekränkte Cromartie schreibt einen Brief an die Zoo-Direktion mit einer Bewerbung und wird tatsächlich aufgenommen: Kurze Zeit später lebt er im Affenhaus, rechts von seinem Käfig ein Orang-Utan, links ein Schimpanse – zwei Nachbarn, die ihm feindlich gesinnt sind, weil er mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch hier wird das absurde Geschehen vom Autor als ganz folgerichtig geschildert. Das Fragenstellen und Grübeln überlässt er uns Lesern.
Susanne Jäggi
Olga Grjasnowa, Gott ist nicht schüchtern
In ihrem neuen Roman konfrontiert uns Olga Grjasnowa mit einer Welt, die uns fremd und fern von unserem westlichen Alltag erscheint, mit deren Geschichten und Menschen wir uns aber viel mehr identifizieren können als vielleicht erwartet. Gott ist nicht schüchtern erzählt die Geschichte von Hammoudi, einem jungen Arzt, und Amal, einer privilegierten Schauspielerin aus Syrien. Beide glauben an die syrische Revolution und kämpfen jeweils auf ihre Art gegen das Regime, müssen schlussendlich aber ihr altes Leben hinter sich lassen und fliehen. Plötzlich gehören sie nicht mehr der syrischen Mittelschicht an, sondern einer neuen Bevölkerungsgruppe, den Flüchtlingen.
Olga Grjasnowa bringt uns die Schicksale vieler junger Menschen auf schmerzhafte Weise näher – näher, als einem vielleicht lieb sein mag. Der Roman rüttelt auf und bewegt, man hofft, bangt und trauert mit den Protagonisten. Ein wichtiges Buch, weil es sich sehr spannend und leicht verständlich liest und so Verständnis und Offenheit schafft für Menschen aus fremden Kulturen.
Debora Stoffel
Rudyard Kipling, Der Schmetterling, der mit dem Fuss aufstampfte
Rudyard Kiplings Hauptwerk kennen wir alle: Das Dschungelbuch. Dass er allerdings auch sonst eine große Liebe zu Tieren hegte, ist zumindest im deutschsprachigen Raum noch kaum bekannt. Bis jetzt: Denn im letzten Herbst ist bei Hanser die wunderschön illustrierte Neuübersetzung der Just So Stories erschienen. Ursprünglich als Gutenachtgeschichten für seine Kinder gedacht, findet sich darin eine Fülle von aberwitzigen Einfällen und fantastischen Erklärungen, wieso die Welt so ist, wie sie ist, und warum die Tiere darin genau so aussehen, wie sie nun mal aussehen. Warum hat das Kamel also beispielsweise einen Höcker? Weil es für alles zu faul war und jede Frage mit »Rutsch mir doch den Buckel runter!« beantwortete. Und weshalb haben Elefanten einen Rüssel? Weil einst ein kleiner Elefant ein wenig zu neugierig war und in letzter Sekunde aus dem Maul eines Krokodils gerettet werden musste – an seiner Nase, die seither lang geblieben ist.
Der Schweizer Zeichnerin Kathrin Schärer, die bereits mit einigen Bilderbüchern für Furore gesorgt hatte, ist es gelungen, Kiplings Poesie und seinen Witz in warmherzigen und treffenden Bildern zum Ausdruck zu bringen.
Doris Widmer
Jonas Lüscher, Kraft
Richard Kraft, der Protagonist in Jonas Lüschers zweitem Roman, will sich befreien. Der Tübinger Rhetorikprofessor nimmt an einem Wettbewerb an der Stanford Universität teil, um sich mit dem Preisgeld aus seiner zweiten unglücklichen Ehe freikaufen zu können. Die Preisfrage »Warum alles, was ist, gut ist und wir es trotzdem verbessern können« entspringt der Geisteshaltung eines Silicon-Valley-Unternehmers, der sowohl den Preis stiftet als auch entscheidet, wer ihn gewinnt. Während Kraft versucht, seine Antwort auf die Frage vorzubereiten, schweift er ab und beginnt stattdessen sein Leben zu hinterfragen. So erfahren wir, wie seine politische und intellektuelle Einstellung zustande kam und wie seine Beziehungen scheiterten. Den Optimismus der digitalen Fortschrittsgläubigen kann er nicht teilen und sieht sich in seinen Überzeugungen überholt. Die Fassade seines neoliberalen Lebensentwurfes beginnt zu bröckeln.
Dieser Roman ist klug, witzig, satirisch und hochaktuell.
Laurin Jäggi
Thomas Melle, Die Welt im Rücken
Was legt der 1975 geborene Autor Thomas Melle hier vor? Einen Roman? Einen biografischen Bericht? Wohl eher das Zweite, womit diese Empfehlung gut zum Thema des vorliegenden Magazins passt. Eigentlich wollte Melle einen Roman schreiben, doch eine Krankheit stellte sich vor dieses Vorhaben. Also erzählt er von der bipolaren Störung, an der er leidet, die ihm nachdem er sich von einer Episode erholt hat, den Raum liess zu beschreiben, was sie mit ihm und seinem Leben gemacht hat. Er zieht Bilanz: Sechs Jahre hatte ihn die Krankheit im Griff, diktierte sein Leben, diese Zeit zieht er von seinem Alter ab, zugleich haben ihn die Auswirkungen, die Verschleisserscheinungen äusserlich mehr als zehn Jahre älter gemacht. Vor dem Ausbruch der Krankheit war Melle ein erfolgversprechender junger Schriftsteller in Berlin, hatte viel gelesen und eine grosse Bibliothek aufgebaut, die Welt im Rücken, nennt er sie. In einer lange fortdauernden, ersten manischen Phase beginnt er, diese Bücher abzustossen, bis kaum noch etwas da ist. Am Schluss seiner Bilanz beginnt er, wieder eine Bibliothek aufzubauen, er braucht diesen Rückhalt, diese Welt im Rücken, er will wieder in Verbindung sein mit Anderen.
Ich war fasziniert und angezogen von diesem sehr genauen, detaillierten Bericht einer Krankheit, die wir als Vorstufe alle kennen, himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt - über deren krankhafte Form ich aber noch nie so erhellend gelesen habe.
Susanne Jäggi
Philipp Winkler: Hool
Hier erzählt einer, dem eigentlich niemand zuhört. Der Protagonist in Philipp Winklers Debutroman bewegt sich am Rand der Gesellschaft. Heikos Mutter ist abgehauen, sein Vater ein Säufer, der Schulabbrecher arbeitet im Fitnesscenter seines Onkels, wo sich zwielichtige Typen aufpumpen. Sein kaputter Mitbewohner veranstaltet Hundekämpfe. Das Einzige, was Heiko etwas bedeutet, sind die Kämpfe mit seinen Hannoveraner Hools. Als einer seiner Mitstreiter schwer verletzt wird und aussteigen will, bricht für ihn eine Welt zusammen.
Aus der Perspektive des Ich-Erzählers Heiko erfahren wir von dieser brutalen Parallelwelt. Seine Sprache ist authentisch, roh und witzig, aber unter der Oberfläche spielt sich ein Drama eines Menschen ab, der seine Gefühle nicht ausdrücken kann, der keine Liebe erfahren hat, der sich in einer Welt voller Trostlosigkeit und Gewalt bewegt. Ein grosses, ein hartes Buch, in dem existenzielle Fragen verhandelt werden, an einem Ort wo sie zunächst kaum vermutet werden.
Laurin Jäggi
Roald Dahl, Sophiechen und der Riese
In England kennt ihn jedes Kind, den „Big Friendly Giant“, und nun ist der gute Riese mit Namen GuRie auch so richtig im deutschsprachigen Raum angekommen: Zeitgleich mit dem Kinofilm ist bei Rowohlt eine neue Ausgabe des Klassikers erschienen.
Als das Waisenmädchen Sophiechen eines nachts den GuRie dabei ertappt, wie er mit einer Trompete schöne Träume in die Zimmer von schlafenden Kindern bläst, wird Sophiechen kurzerhand ins Riesenland entführt. In seiner Höhle angekommen, erholt sie sich rasch vom ersten Schrecken und die Beiden fassen langsam Vertrauen zueinander. Es stellt sich heraus, dass der GuRie der einzige gute Riese im Land ist, die anderen dagegen sind nicht nur doppelt so gross wie er, sondern auch äusserst hinterhältig, widerwärtig und grausam: Nacht für Nacht machen sie sich auf in die Menschenwelt, um sich dort den Bauch mit Kindern vollzuschlagen. Sophiechen ist darob hell entsetzt und gemeinsam hecken die Beiden einen Plan aus, wie man den Riesen ein für alle Mal das Handwerk legen kann. Dass dieser Plan niemanden geringeren als die Königin von England als Komplizin vorsieht, und auch sonst so absurd ist, dass er eigentlich gar nicht aufgehen kann, macht das Buch zu einer phantastischen und witzigen Lektüre für Kinder ab 10.
Doris Widmer
Eva Schmidt, Ein langes Jahr
Seit beinahe zwanzig Jahren hat die 1952 geborene Österreicherin Eva Schmidt nichts veröffentlicht und legt nun mit diesem schmalen Buch eine Perle vor. In 38 Episoden erzählt sie aus wechselnden Perspektiven, einer allwissenden und mehreren Ich-Perspektiven, vom Leben in Bregenz, einer Stadt die nie namentlich genannt wird, die aber klar erkennbar ist. Kinder, Obdachlose, alte Menschen und immer wieder eine Fotoreporterin kommen hier zu Wort. Beziehungen bahnen sich an und kommen nur zart oder dann doch nicht zu Stande, Pläne werden nicht ausgeführt oder scheitern, alles geschieht sehr leise, immer wieder glitzert der Bodensee dazwischen. Ein melancholisches Buch hat Eva Schmidt geschrieben, eines, dass sich nur ganz aufmerksam lesen lässt, das Gegenteil eines Pageturners, das Gegenteil von Vielem überhaupt. Doch als Leserin wurde ich reich beschenkt von all diesem Leisen, Unspektakulären, Langsamen. Ich weiss, ich wiederhole mich: Dieses Buch ist eine Perle.
Susanne Jäggi
Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Ein Wolf kommt nach Berlin. Die Stadt und das Tier sind gleichsam die Elemente, die diesen Roman zusammenhalten als Hauptprotagonisten. Das Buch besteht aus verschiedenen Geschichten, die in kurzen Episoden, ineinander verschachtelt montiert sind. Zwei Teenager, die ausreissen und ihre Eltern, die sie suchen. Ein polnisches Paar, sie Putzfrau, er Bauarbeiter.
Die Wege dieser und weiterer Figuren kreuzen sich auf die eine oder andere Weise, ohne dass daraus wirkliche Begegnungen würden. Ohnehin ist die titelgebende Kälte nicht nur wetterbedingt, sondern scheint auch die Menschen ergriffen zu haben, in einer Gesellschaft, die durch Orientierungslosigkeit, Einsamkeit und Angst beherrscht ist. Auch auf der sprachlichen Ebene zeigt sich die Kälte, minimalistisch und lakonisch. Der bekannte Dramatiker Roland Schimmelpfennig glänzt in seinem ersten Roman als Erzähler, der reduziert, auslässt. Fast drehbuchartig, fast wie Regieanweisungen in einem Stück, liest sich dieser Text. Und trotzdem erschafft er lebendige, bildstarke Leseerfahrungen.
Laurin Jäggi
Emma Cline, The Girls
Eine kalifornische Kleinstadt in den späten sechziger Jahren. Die Hippie-Bewegung ist weit weg und das Leben beschaulich, bis die Girls in der Stadt auftauchen. Evie Boyd, vierzehn und unscheinbar, fühlt sich augenblicklich von der fremden Mädchengruppe angezogen und ist überglücklich, als sie in ihre Reihen aufgenommen wird. Ausserhalb, auf einer heruntergekommenen Farm scharen sie sich um ihren Guru, dem sie ebenso wie seinen Drogen heillos verfallen sind. Die Grenzen zwischen Wahn und Realität verwischen immer wieder, Evie fühlt sich zugleich geborgen und abgestossen. Nie gehört sie ganz dazu, behält immer einen Fuss in ihrer früheren, geordneten Welt, was schlussendlich, als die schwelende Gewalt eskaliert, ihre Rettung sein wird.
Der an die wahre Geschichte um die Gruppe um Charles Manson angelehnte Coming-of-Age- Roman überzeugt durch eine frische, klare Sprache und versteht es, eine kribbelnde Spannung zu erzeugen. Evie Boyd ist eine starke, mit all ihren pubertierenden Widersprüchlichkeiten überzeugende Figur, über die man auch beim grössten Fehler nie den Kopf schüttelt, weil sie uns glaubhaft versichern kann, dass wir genauso gehandelt hätten.
Doris Widmer
Lucia Berlin, Was ich sonst noch verpasst habe
Lucia Berlin (1936 - 2004) hinterliess ein Werk von 76 Kurzgeschichten, die in den 1980er Jahren publiziert und danach vergessen wurden - bis die Autorin Lydia Davis erneut auf sie aufmerksam machte. Im letzten Jahr erschien eine neu zusammengestellte Auswahl, die kurz danach auf der New York-Times-Bestsellerliste landete. Von vielen Schriftstellern gelobt, mit einigen der ganz Grossen verglichen: Meine Erwartung war entsprechend gross, ebenso gross die Enttäuschung nach dem Lesen der ersten Erzählung. Die Sammlung ist chronologisch geordnet, nach der Lektüre der späteren Stories verstand ich die Begeisterung. Dabei erzählt sie scheinbar Banales, oft aus dem Leben gewöhnlicher Menschen: Haushaltshilfen, Krankenschwestern und Lehrerinnen. Es geht um scheiternde Ehen und schwangere Mädchen, um Immigranten, um Einsamkeit, Liebe und Gewalt. Die Orte des Geschehens sind die des Alltags: Wachsalons, Cafés, Wohnungen und Arztpraxen. Die Sprache von Lucia Berlin ist pointiert-trocken aber auch oft voller Melancholie. Das Herausragende für mich bei dieser Lektüre ist die Liebe, die die Autorin ihren Figuren entgegenbringt, die Kenntnis ihrer Verzweiflungen und der Mühsal des Lebenskampfes. Das Rohmaterial zu diesen Erzählungen ist Lucia Berlins eigenes Leben: Sie ist 1936 in Alaska geboren, wo ihr Vater als Bergbauingenieur arbeitete, später hat sie fast überall im Westen der USA gelebt, ausserdem in New York, in Chile und Mexiko. Als Kind erlitt sie Missbrauch, als Erwachsene war sie jahrzehntelang alkoholabhängig. Sie war mit Dichtern und Musikern befreundet. Mit Anfang dreissig war sie bereits dreimal geschieden und hatte vier Söhne. Ihr Geld verdiente sie als Putzfrau, Aushilfslehrerin und Krankenpflegerin. Lucia Berlin hat aus diesem reichen Fundus geschöpft und ein lesenswertes Werk hinterlassen. Bitte lesen!
Susanne Jäggi
Richard Flanagan, Der schmale Pfad durchs Hinterland
Der australische Schriftsteller Richard Flanagan erzählt vom Bau der sogenannten Todeseisenbahn im Urwald Thailands. Während des Zweiten Weltkrieges wollte die japanische Armee diese Versorgungslinie mit Hilfe von asiatischen Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen anlegen, über hunderttausend Menschen starben dabei. Der Protagonist Dorrigo Evans befindet sich mit seinen Soldaten der australischen Armee in einem der Lager. Sie leiden an Unterernährung, Krankheit, Sklavenarbeit und unmenschlicher Brutalität der japanischen Aufseher. Nüchtern und detailliert beschreibt Flanagan die Grausamkeit und Unwürdigkeit in dieser Lagerhölle. Die Erzählstruktur ist komplex angelegt, die Handlung verläuft nicht Chronologisch und nimmt verschiedene Perspektiven ein. So wird auch Evans Leben vor dem Krieg und danach erzählt. Er verpasst eine grosse Liebe, die ihn im Lager am Leben hält, er wird zum Kriegshelden und endet in einer Vernunftehe. All dies scheint dem Protagonisten zu passieren, immer waren es die Umstände und die Erwartungen der Gesellschaft, die über sein Leben bestimmt haben. Flanagan gelingt es, auf dem schmalen Grat zwischen Brutalität des Krieges und Schönheit der Sprache zu balancieren und dabei aufzuzeigen was den Menschen im Kern ausmacht.
Laurin Jäggi
Istvàn Örkény, Minutennovellen
Skurril sind sie, und bisweilen auch ein bisschen altmodisch, diese Minutennovellen. Kleine Geschichten auf maximal vier Seiten, die aber jedes Mal zuverlässig ein ganzes Universum vor dem Auge des Lesers entstehen lassen. Alle langen Erklärungen und Einordnungen in einen grösseren Zusammenhang fallen weg, meist wird man gleich Zeuge einer aussergewöhnlichen oder absurden Wendung, die das Leben der unterschiedlichsten Figuren nimmt.
Mal fallen selbstmörderische Tulpen vom Balkon, weil sie keine Tulpen mehr sein möchten, wie gleich zu Beginn, dann wieder belauschen wir einen ad absurdum geführten Streit zwischen zwei Kohle schleppenden Bewohnern in einem vom Krieg zerstörten Mietshaus. Obwohl so unterschiedliche, universelle Dinge wie Zufälle, Zwänge, krankhafte Eitelkeiten, der Tod oder sogar Autostopp Gegenstand der Novellen sind, spürt man doch die typisch ungarische Seele in fast jedem Satz.
Örkeny wurde 1912 in Budapest geboren, jüdisch, war Apotheker und Chemiker und verbrachte den Krieg in einem russischen Arbeitslager. 1953 veröffentlichte er seinen ersten Roman und wurde ab den sechziger Jahren auch im Ausland bekannt. 1979 starb Istvan Örkeny und gilt heute als moderner Klassiker.
Doris Widmer
Juli Zeh, Unterleuten
„An diesem Roman habe ich fast zehn Jahre gearbeitet. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich „Unterleuten“ weniger geschrieben als bewohnt. Mein ganzes schriftstellerisches Leben lang wollte ich einen Gesellschaftsroman schreiben. Als Jugendliche las ich die grossen französischen oder russischen Romane von Balzac, Zola, Dostojewski und Tolstoi, als Erwachsene die grossen amerikanischen Erzähler wie Updike, Franzen, DeLillo und Roth. Für mich ist dies die literarische Königsdisziplin: wenn es gelingt, nicht nur eine spannende Geschichte und interessante Figuren zu erschaffen, sondern darüber hinaus den Zeitgeist und die Befindlichkeiten einer ganzen Epoche in einen Roman hineinzuerzählen.
Es geht um die grossen Fragen unserer Zeit. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des persönlichen Eigeninteresses? Wie entstehen Konflikte? Woran glauben wir? Was ist aus dem alten Krieg zwischen Kommunismus und Kapitalismus geworden, wie lebt er in der modernen Zeit weiter? Wie kommt es, dass alle immer nur das Beste wollen und am Ende trotzdem schreckliche Dinge passieren?“
Ich zitiere hier aus einem Brief, den Juli Zeh an Buchhändlerinnen und Buchhändler geschrieben hat, weil ihre eigenen Worte besser beschreiben, worum es in diesem Roman geht, als ich es könnte. Was ich hingegen kann, ist, zu sagen, dass es Juli Zeh gelungen ist, dem genannten Kanon von Gesellschaftsromanen einen bedeutenden hinzuzufügen. Was für ein Lesevergnügen, was für eine genaue Beschreibung der Figuren, die dieses Dorf bevölkern. Für die Zeit der Lektüre habe ich in Unterleuten gelebt, habe ich mich immer wieder durch unvorhersehbare Wendungen überraschen lassen, habe gestaunt, wie echt die von Zeh geschaffenen Figuren erschienen, wie es weder gut noch böse gab, sondern ständig neue Einsichten. Für mich hat Juli Zeh mit diesem unglaublich spannenden, facettenreichen Roman gezeigt, dass sie fähig ist zur Königsdisziplin, zu einem Werk, das uns Leser packt und mitnimmt und unseren Horizont erweitert. Ein eindrückliches Leseerlebnis, dass mich noch lange beschäftigen wird!
Susanne Jäggi
Laurie Penny: Unsagbare Dinge - Sex, Lügen und Revolution
Die englische Journalistin und Autorin ist die derzeit wichtigste stimme des jungen Feminismus. In ihrem Buch „Unsagbare Dinge“ analysiert sie auf brillante Weise die Missstände in westlichen Gesellschaften. Der Feminismus, den sie vertritt versteht sich als Mittel zum Kampf gegen Ungerechtigkeit und setzt sich ein für die Unterdrückten. Penny bietet keine einfachen Lösungen, aber ihre scharfen Analysen der gesellschaftlichen Strukturen, die zu Ungleichheit führen, zeigen auf was sich ändern muss.
Sie entlarvt die Mechanismen des Neoliberalen Kapitalismus, die zu sozialer und ökonomischer Diskriminierung führen und fordert Emanzipation für alle. Die Genderkonformität schadet nicht nur den Frauen, auch queere Menschen und Männer leiden unter gesellschaftlichen Rollenbildern. Ebenso prangert sie einen Feminismus an, der das Bild der Karrierefrauen verbreitet, Arme, Queere, Nicht-Weisse bleiben davon ausgeschlossen.
Penny schreibt klug, wortmächtig, witzig und furios. Ein Feminismus, als gesellschaftsverändernde Kraft, der sich einsetzt für die Gerechtigkeit und Freiheit aller.
Laurin Jäggi
Meral Kureyshi, Elefanten im Garten
„Ich habe mir meine Muttersprache selbst beigebracht, da war ich zehn“, resümiert die Schriftstellerin Meral Kureyshi gegen Ende Ihres Debütromans. Als zehnjähriges Mädchen kam Kureyshi mit ihrer Familie in die Schweiz. Geflohen aus Prizren, einer osmanisch geprägten Stadt im ehemaligen Jugoslawien, dort einer türkischsprachigen Minderheit angehörend. Dreizehn Jahre dauert das Asyl, dreimal wird der Asylantrag der Familie abgelehnt, die Ablehnung wieder zurückgenommen. Kureyshi erzählt rückblickend von ihrer Kindheit, atmosphärisch dicht und anschaulich. Sie beschreibt die Geschichte ihrer Familie aus der Sicht eines verunsicherten Mädchens. Die Abschiebung in die alte Heimat, immerhin zurück zur geliebten Grossmutter, steht an, – alle Möbel sind schon weg, in der Schule wurde das Mädchen kühl verabschiedet – als im letzten Moment doch ein Brief mit einem wiederum vorläufig positiven Entscheid eintrifft. Beinahe unerträglich ist es, dieser Handlung zu folgen, verständlich dagegen, dass sich die Protagonistin in Phantasiewelten rettet, Phantasien von einem stabilen Leben und gesellschaftlicher Anerkennung.
Der Tod des Vaters lässt alles Geschehene klar hervortreten. Meral Kureyshi beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, in einer klaren, schlichten Sprache – dem ihr immer noch nicht gänzlich vertrauten Deutsch.
Susanne Jäggi
Lukas Bärfuss, Stil und Moral
Lukas Bärfuss ist zur Zeit wohl der präsenteste Schweizer Autor. Mit seinem Essayband Stil und Moral scheint er die Aufmerksamkeit auch politisch nutzen zu wollen. Die Sammlung besteht aus essayistischen Texten und Reden, die über die letzten Jahre entstanden sind.
Inhaltlich gehen die Themen weit über die Politik hinaus, behandelt Bärfuss doch ein breites Spektrum von Bildung über Literatur bis Kolonialismus. Gemeinsam ist den Texten jedoch die Herangehensweise des Autors. Die ausgezeichnet geschriebenen Essays überzeugen durch eine erzählerische Sprache, so wie durch eine klare Haltung. Bärfuss versucht die Widersprüche und Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und scheut sich nicht, sich selbst in die Kritik miteinzubeziehen. Er geht von sich und seinen Erfahrungen aus. Besonders berührend gelingt dies bei der Beschreibung seiner Herkunft aus schwierigen Verhältnissen und seinen Problemen in der Schulzeit, oder bei seinen Leseerfahrungen.
Aber auch die grossen Fragen zu Themen wie Freiheit, Kapitalismus und Ausbeutung werden nicht abstrakt verhandelt, sondern bestechen durch klare Worte und unbequeme Positionen.
Häufig vernimmt man die Klage, dass sich Intellektuelle und Künstler heutzutage nicht mehr zu gesellschaftlichen oder politischen Themen äussern würden. Hier ist einer.
Laurin Jäggi
Iso Camartin: Bin ich Europäer? Eine Tauglichkeitsprüfung
Auch im Jahr 2015 hat dieses Buch, obwohl bereits fast zehn Jahre alt, nichts von seiner Aktualität eingebüsst. In diesen Tagen können sich viele Europäer zwar immer weniger mit dem Gebilde der EU identifizieren, fühlen sich jedoch zweifelsohne in Europa zu Hause und blicken mit einem gewissen Stolz auf die Errungenschaften ihres Kontinents.
Der Frage, was denn nun genau einen Europäer ausmacht, geht Iso Camartin nach, indem er uns seine ganz eigene und sehr gelungene Auswahl grosser historischer Persönlichkeiten präsentiert, deren Ideen das Europa wie wir es heute wahrnehmen, geformt haben. Er charakterisiert so brillante Denker wie Francis Bacon oder Giordano Bruno, Schriftsteller wie Sartre aber auch Musiker wie Bach oder Händel.
Neben diesen Porträts nähert sich Camartin der europäischen Identität auch über Betrachtungen zur Sprache im Allgemeinen und zum Rätoromanischen im Besonderen, er schildert uns heimische und fremde Sitten und Gebräuche, lässt uns unberührte Natur erleben und versucht so, eine Antwort auf die titelgebende Frage zu finden.
In diesen kurzen Essays lässt er zwar meist Höhepunkte eines humanistischen Bildungskanons Revue passieren, ohne allerdings je professoral zu wirken. Im Gegenteil, er versucht, den gemeinsamen europäischen Nenner mit Witz und Leidenschaft zu ergründen und lässt die Leser die Frage, ob auch sie Europäer seien, mit einem klaren Ja beantworten.
Doris Widmer
Moderne Poesie in der Schweiz, Eine Anthologie von Roger Perret
113 Jahre Poesie: Diese Anthologie spiegelt das poetische Schaffen in der Schweiz im zwanzigsten Jahrhundert und bis heute. Die poetische Moderne beginnt in der Schweiz um 1900 mit Blaise Cendrars, Robert Walser und Adolf Wölfli. In einer ungezwungenen Chronologie folgt die Anthologie dem Lauf der Zeit. Sie ist so komponiert, dass zwischen den Gedichten Schwingungen und Resonanzräume entstehen, ein poetisches Gespräch, nicht als Zeitdiagnose, sondern eine Art Tiefenstrom der Geschichte. So sprechen Emmy Ball-Hennings mit Annemarie Schwarzenbach, Paul Klee mit Sonja Sekula, Hermann Hesse und Jörg Steiner mit Louis Soutter oder Erika Burkart mit Luisa Famos und Anne Perrier. Poesie wird hier erstmals in ihrer ganzen Breite präsentiert, lyrische Prosa ist ebenso berücksichtigt wie Wort-Bild-Arbeiten, Mundartgedichte oder Songtexte von Mani Matter über Endo Anaconda bis Sophie Hunger. Neben den Landessprachen sind auch diejenigen von Aus- und Eingewanderten vertreten, alle fremdsprachigen Texte sind in deutscher Übertragung wie im Original wiedergegeben. Gegen sechshundert Werke von rund zweihundertfünfzig Autorinnen und Autoren in ihrer ganzen reichhaltigen und überraschenden Vielfalt erhalten hier eine «kleine Poesie-Herberge».
Dieses wunderschön gestaltete Buch ist eine verlegerische Großtat, ein Buch, von dem ich hoffe, dass es noch mindestens 113 Jahre existiert.
Susanne Jäggi
Linus Reichlin, In einem anderen Leben
Mit „In einem anderen Leben“ legt Linus Reichlin einen Coming-of-Age-Roman vor. Der Schweizer Autor wurde mit dem 2008 erschienenen Krimi „Die Sehnsucht der Atome“ einer breiteren Leserschaft bekannt. In seinem neuesten Werk begleiten wir den Protagonisten Luis auf seinem Weg zum Erwachsenwerden. Er wächst als Einzelkind mit schrecklichen, sich im Ehegrabenkrieg befindlichen Eltern auf. Der Vater ist ein Trinker und als die Mutter nach einem Unfall zu einem komatösen Pflegefall wird, bricht die Familie vollends auseinander. Luis, nun ein junger Mann, flieht und versucht sich fortan selbst über Wasser zu halten und seine unglückliche Kindheit und Jugend zu vergessen. Doch seine Dämonen folgen ihm, der sich ein anderes Leben aufzubauen vermochte, in einem anderen Land. Und sie stören sein vermeintliches Glück, seine Beziehungen, bis er sich endlich seiner Geschichte stellt.
Ein kluger und wundersam berührender Roman darüber, wie stark wir von unserer Herkunft geprägt werden und warum es sich lohnt, sich damit auseinanderzusetzen um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Laurin Jäggi
Kurt Guggenheim, Alles in Allem
Das Fremdsein im Eigenen, das Heimischwerden im Fremden
Anfang der Siebziger Jahre – gerade sechzehn Jahre alt - lebte ich für ein Zwischenjahr in Zürich. Meine Mutter gab mir bei der Abreise den Roman „Alles in Allem“ von Kurt Guggenheim mit und empfahl mir diese Lektüre, um etwas von Zürich zu verstehen. Da ich ganz auf mich alleine gestellt war, in einem Haushalt arbeitete, wo ich zum Personal zählte und also keinen Familienanschluss hatte, blieb viel Muße, für diese über tausendseitige Romanchronik, die Zürich in vier Kapiteln von 1900-1945 darstellt. Ich versank in diesem wunderbaren Werk, das sich über fünfundvierzig Jahre bewegende Geschichte erstreckt, dargestellt an hundertvierzig Menschen, viele davon mit einem realen Hintergrund, neben mir den aktuellen Stadtplan. Ich tauchte ein in diesen Kosmos von verschiedenen Religionen, gesellschaftlichen Schichten, politischen Wirrnissen und städteplanerischen Umwälzungen. Am Ende der Lektüre verspürte ich die schmerzliche Leere, die nur gelungene Literatur hinterlässt. Bei der zweiten Lektüre, etwa drei Jahrzehnte später, staunte ich über die Komplexität und die aktuelle Bedeutung dieses Meisterwerks und fragte mich zugleich, was ich in meinem jugendlichen Alter wirklich verstanden hatte, eine Frage, die wohl den meisten „Wiederlesern“ bekannt ist.
Auch Kurt Guggenheim, 1896 in Zürich geboren, und bis zu seinem Tod 1983 in Zürich lebend, war erst sechzehn Jahre alt, als er begann, ein ausserordentlich literarisch orientiertes Tagebuch zu führen. Ab 1930 widmete er sein Leben ganz dem Schreiben. 1946, nachdem er schon einige Romane veröffentlicht hatte, schrieb er an seinen Verleger Friedrich Witz: „Ich will zwischen 50 und 60 einen grossen, modernen schweizerischen Struktur- und Generationenroman schreiben. Das Problem für mich ist, die ihm adäquate neue Form zu finden.“ Und wie ihm dies gelungen ist! Von 1952 bis 1955 erschien der Roman in vier Teilen, nach dem Erscheinen des letzten Teils erhielt er für das Werk 1955 den Zürcher Literaturpreis. Doch lesen Sie selbst, folgen Sie Aaron Reiss, dem Alter Ego Guggenheims durch diese fünfundvierzig Jahre in Zürich, lassen Sie sich von seiner Liebesgeschichte, seinen Hoffnungen und Enttäuschungen ergreifen, Sie werden es nicht bereuen!
Susann Jäggi
Juli Zeh, Nachts sind das Tiere
Es gibt kaum eine Schriftstellerin im deutschsprachigen Raum, die sich konsequenter in die Politik einmischt und die Phänomene der modernen Gesellschaft schärfer analysiert als Juli Zeh.
Ob sie nun der Frage nachgeht, welchen Einfluss soziale Medien auf uns haben und was in Zukunft im Zeitalter der Digitalisierung von uns bestehen bleibt; ob sie Bildungswesen, Europapolitik oder den Aufschwung anderer Kulturen wie China oder den arabischen Raum beleuchtet; diese in den letzten zehn Jahren entstandenen Essays und Reden widerspiegeln ziemlich genau, was unsere Gesellschaft heute bewegt.
In dieser Sammlung lernen wir aber auch sehr persönliche Seiten von Juli Zeh kennen: wir begegnen Ihrem Sohn und Ihrem Mann, begleiten die Autorin auf einem Streifzug durch ihre Heimatstadt Bonn, erleben den Literaturbetrieb im Allgemeinen und ihr eigenes literarisches Arbeiten im Besonderen.
Egal ob nun ein Thema von grösster politischer Brisanz oder nur für das Individuum relevant ist, Juli Zeh ermutigt die Leser, sich eine eigene Meinung zu bilden und erachtet die (Entscheidungs-)Freiheit stets als oberstes Gebot.
Doris Widmer
Olga Grjasnowa, Die juristische Unschärfe einer Ehe
Wer Olga Grjasnowas Erstling mit dem Titel Der Russe ist einer, der Birken liebt gelesen hat, kann sich wohl gut an die spezielle Atmosphäre des Buches erinnern. Die selbe Stimmung packt einen auch beim Lesen des zweiten Werks der jungen deutschen Autorin mit aserbaidschanischen Wurzeln. In dem Roman geht es um die junge Tänzerin Leyla, ihren Ehemann Altay und ihre Geliebte Jonoun. Leyla, die nach einem Sturz das Tanzen aufgeben muss, flieht in ihre Geburtsstadt Baku, in der Hoffnung, dort eine Lösung für die aufgeladene Dreiecksbeziehung zwischen ihr, Altay und Jonoun zu finden. Als sie schliesslich in einem aserbaidschanischen Gefängnis landet, reisen Altay und Jonoun ihr nach. Alle drei sind sie auf der Suche nach der Liebe, vor allem aber auf der Suche nach sich selbst. Dabei spielen Bisexualität, Heimatlosigkeit und sowjetische Wurzeln tragende Rollen. Obwohl die Themenwahl und die Stimmung des Romans stark an den Erstling der Autorin erinnern, unterscheiden sich die Bücher doch sehr. Der Schreibstil und das Buch an sich wirken ausgereifter. Die junge Autorin hat für den Roman drei wunderbare Figuren geschaffen und eine tiefgründige, packende Geschichte geschrieben, die unter die Haut geht.
Debora Stoffel
Yasmina Reza, Glücklich die Glücklichen
Glücklich die Lesenden dieses Buches, möchte ich in Abwandlung des sehr schönen Titels dieses Romans als Erstes bemerken. Die 1959 geborene Französin Yasmina Reza – die vor allem durch ihre Theaterstücke bekannt wurde – legt hier einen Roman in mehreren Akten vor. Ganz in der Gegenwart spielend wie ein Theaterstück, wird hier ein Freundeskreis vorgestellt, bestehend aus Paaren, Einzelgängern und Familien. Es sind Journalisten, Ärzte, Schauspieler, die wir in kurzen, tragischen oder komischen Szenen erleben.
Dabei sitzt man als Leser in der ersten Reihe: Rezas Figuren kommen so nahe, dass man glauben kann, selbst ein Teil dieses Freundeskreises zu sein, so direkt und gegenwärtig schildert die Autorin den Alltag, die Gedanken und die Befindlichkeit ihrer Figuren. Und alles in so dicht gedrängter Form, dass klar ist, dieses Buch kann nochmals gelesen werden, und noch einmal wird gelten: Glücklich die Lesenden!
Susanne Jäggi
Haruki Murakami, Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Die fünf waren während der Schulzeit eine unzertrennliche Clique, zwei Mädchen und drei Jungen, und jeder trug eine Farbe in seinem Namen: Rot, Blau, Weiß und Schwarz. Außer Tsukuru Tazaki, der sich selbst auch im übertragenen Sinn als farblos empfand und sehr darunter litt. Als er mit Anfang zwanzig von einem Tag auf den anderen aus der Gruppe ausgeschlossen wird, heißt es, er wisse schon, warum. Heute, mit sechsunddreißig, weiß Tsukuru den Grund für diesen plötzlichen Bruch, der ihn an den Rand des Selbstmordes gebracht hatte, noch immer nicht. Er lebt allein und unauffällig, lässt keine richtige Nähe zu und ist überzeugt, dass die Schuld immer bei ihm liegt, wenn sich jemand von ihm abwendet. Als Sara in sein Leben tritt, spürt er, dass dies die Frau ist, die ihm guttut, und dass er sie verlieren wird, wenn er sich nicht endlich auf die Suche nach der Wahrheit macht. Und so sucht er seine ehemaligen Freunde einen nach dem anderen auf und findet auf seiner Reise verblüffende Antworten. Ein wunderbares Buch, das sowohl Einsteiger als auch eingefleischte Murakami-Fans begeistern wird.
Doris Widmer
Alfred Goubran, Durch die Zeit in meinem Zimmer
Ein junger Mann aus der Vorstadt einer Kleinstadt lehnt das bürgerliche Leben seiner Eltern ab. Er lebt von der Hand in den Mund, schläft tagsüber und lässt sich durch die Nacht treiben. Eine Existenz ohne wirkliche Verpflichtungen oder Bindungen. Als er unverhofft an eine größere Menge Geld kommt, verlässt er sein schäbiges Zimmer in seiner engen Stadt und reist Richtung Süden. Eine Reise, die, durch Zufall geleitet, immer merkwürdiger und absurder wird und in einem schwarzen Schloss im Niemandsland endet.
Nach und nach vermischen sich im Text Wirklichkeit, Erinnerung, Traum und Fieberwahn. Diese Verwirrung erfasst neben dem Protagonisten auch den Leser. Ist das nun erzählte Realität oder ein fiebriger Traum? Der Erzähler dieser Geschichte wechselt die Perspektive, schweift ab, vermischt Zeit und Raum, Wahrheit und Fiktion und stellt somit die Realität infrage. Der österreichische Autor Alfred Goubran schreibt mit kraftvoller und verstörender Sprache, die bleibende Bilder hinterlässt.
Laurin Jäggi
Joachim B. Schmidt, In Küstennähe
Eigentlich könnte Làrus Kristjanson zufrieden sein mit seinem Leben in den Westfjorden Islands: Neben der Arbeit als Hauswartsgehilfe im lokalen Altersheim verdient er viel Geld mit Drogengeschäften. Für ihn kein Wunder, dass auch die junge Pflegerin Soffia auf ihn zu stehen scheint. Trotzdem fühlt Làrus sich alleine und würde gerne eines Tages Island für immer verlassen. Als er wegen einer defekten Heizung einige Tage im Zimmer von Grìmmur, dem Schlächter, arbeiten muss, ist dies der leise Anfang einer tiefen Freundschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern. Grìmmur, über den man sagt, er habe seine Schwester ermordet und im Meer versenkt, hat seit deren Tod kein Wort mehr gesprochen. Bruchstückhaft lässt er nun Làrus an seinem Schicksal teilhaben.
Genauso wie die Geschichten dieser Männer ist auch der Erstling des 1981 geborenen Schweizers Joachim B. Schmidt, der selbst in Island lebt: Ich versank in der düsteren Abgeschiedenheit der Westfjorde Islands, lachte und litt mit den Protagonisten bis zum dramatischen Finale.
Debora Stoffel
John Lanchester, Kapital
Eigentlich geht es in der Pepys Road in Südlondon immer um das liebe Geld: Es beschäftigt den Banker, dessen Bonus dieses Jahr nur gerade 30‘000 £ statt der erhofften Million beträgt, den polnischen Handwerker, der sich kein richtiges Leben in der Fremde aufbauen will, sondern für seinen Vater in Polen spart, die pakistanische Familie, die mit ihrem Laden an der Ecke ebendieses mit überlangen Öffnungszeiten sauer verdienen muss.
Und dann sind da noch jene, denen alles Geld nichts mehr nützt, weil Gesundheit und Freiheit eben nicht käuflich sind: Die alte Frau, die gegen ihre Krebserkrankung kämpft, der junge Pakistani, den eine falsche Freundschaft ins Gefängnis bringt, die Fussballhoffnung aus Afrika, deren Karriere schon zu Ende ist, bevor sie überhaupt begonnen hat; sie alle sind Teil einer Gesellschaft, die 2007 langsam in die Finanzkrise schlittert.
Eines aber verbindet die Bewohner der Pepys Road miteinander: Sie erhalten anonyme Postkarten mit dem einen Satz darauf: „Wir wollen, was ihr habt“. Und dies bedeutet natürlich für jeden etwas Anderes...
Ein grossartiges, vielschichtiges Gesellschaftspanorama, rasant wie eine Soap!
Doris Widmer